Wittgenstein wurde schnell mehr von Künstlern geschätzt als von Philosophen, denen er die Rundumerklärung untersagte. Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Peter Handke, alles Wittgensteinianer – ebenso wie der US-Amerikaner David Foster Wallace, der eine vielversprechende Karriere als Mathematiker aufgab, um Schriftsteller zu werden. Der Filmemacher Terrence Malick, vom Studium her ein Philosoph, hat seine Doktorarbeit zwar nicht fertiggestellt, sie beschäftigte sich aber mit Wittgenstein und Heidegger.
Was Künstler anspricht, ist Wittgensteins Unmittelbarkeit im Hinblick auf Bedeutung (Stimmung), deren Urzelle, das Sprachspiel, eine anschauliche, dramatische Einheit darstellt. Bedeutung kann ursprünglich nicht erklärt, nur erlebt werden. Die Erklärung wird erst später eine Eigenschaft des „metaphysischen Sprachspiels“, welches Theorien entwickelt, um sich die Wirklichkeit zu vergegenwärtigen. Daraus wiederum haben sich die Wissenschaften entwickelt, die heute alles beherrschen.
Andere Bedeutungsquellen gerieten dadurch ins Hintertreffen, zum Beispiel Sprachspiele, die kaum mehr vorkommen oder nur noch in nicht ernst genommener Form, aber insbesondere für Künstler von Interesse sind wie beispielsweise alles Rituelle.
Das Ritual ist uns so fremd geworden, dass wir seinen Wert als Quelle tiefer Bedeutung zunehmend verkennen. Wenngleich wir ihm, wo es heute noch vorkommt, unbedingt Folge leisten. Beispiele sind das Ausblasen der Kerzen auf dem Geburtstagskuchen, die Schiffstaufe, das Feuerwerk zum Neujahr, der Cirque de Soleil oder Hochzeitsfeierlichkeiten. Oder DJ Bobo, der weder singen noch tanzen kann, aber einen begnadeten Sinn für rituelle Verläufe hat und dabei mehr Weihrauch einsetzt als so mancher Missionar. Sein Publikum geht nach dem Erlebnis seiner Shows tief befriedigt nach Hause.
Wittgenstein arbeitet die Bedeutungsquelle des Rituellen heraus in seinen Bemerkungen über Frazers Golden Bough, eine Vergleichsstudie über Mythologie und Religion des schottischen Anthropologen James George Frazer, in welcher dieser zu dem Schluss kommt, dass sich der menschliche Geist von Magie über Religion zur Wissenschaft entwickelt.
Frazer beurteilt die Rituale der Primitiven als vorwissenschaftlich, beruhend auf einem falschen Verständnis der Welt, und huldigt damit dem Mythos der archaischen Dummheit. Alle unsere Vorfahren, insbesondere aber die, welche nichts Wissenschaftliches hervorbrachten, werden als intellektuell minderwertig betrachtet. Sie waren so dumm, dass die dachten, es durch Tanzen regnen lassen zu können. Damit wird ihnen jene kausale Besessenheit unterstellt, die uns heute beherrscht und in deren Rahmen Tätigkeiten nur als sinnvoll erachtet werden, wenn sie auch etwas bewirken.
Doch dieses Urteil gleicht jenem, das jemand fällen könnte, der uns beim Abfeuern von Neujahrsraketen beobachtet und sagt: „Sie denken, wenn sie keine Raketen verschießen, bleibt das neue Jahr aus.“
Die Neigung, alles zu erklären, also in einer Theorie zu verankern, anstatt es wörtlich zu nehmen, ist Ausdruck der Krankheit unserer Zeit, die grobe, närrische Resultate hervorbringt, wenn ihre Deutungsmuster auf primitive Bräuche angewandt werden.
„Seine Erklärungen der primitiven Gebräuche“, schreibt Wittgenstein über Frazer, „sind viel roher als der Sinn dieser Gebräuche selbst.“
Wittgenstein erinnert uns daran, dass wir den Sinn primitiver Gebräuche durchaus verstehen können, weil das, was sie ursprünglich aufkommen ließ, in uns weiterlebt und nicht erklärt werden muss.
Frazer beschreibt und erklärt zum Beispiel ausgiebig den Brauch des Tötens des „Waldkönigs von Nemi“. Dazu Wittgenstein: „Und die Erklärung ist es hier gar nicht, die befriedigt. Wenn Frazer anfängt und uns die Geschichte von dem Waldkönig von Nemi erzählt, so tut er dies in einem Ton, der zeigt, dass hier etwas Merkwürdiges und Furchtbares geschieht. Die Frage aber ‚Warum geschieht dies?‘ wird eigentlich dadurch beantwortet: Weil es furchtbar ist. Das heißt, was uns bei diesem Vorgang furchtbar, großartig, schaurig, tragisch etc., nichts weniger als trivial und bedeutungslos vorkommt, das hat diesen Vorgang ins Leben gerufen.“ Frazers „Erklärung ist im Vergleich mit dem Eindruck, den uns das Beschriebene macht, zu unsicher.“
Was einen an dem Brauch beeindruckt, meint Wittgenstein, ist weniger Frazers Erklärung (die Primitiven würden nicht davor zurückschrecken, die Natur mit „jedem erdenklichen Mittel“ zu beeinflussen) als das Gefühl der „Majestät des Todes“, welches wir mit den Betroffenen teilen.
„Wenn man mit einer Erzählung vom Priesterkönig von Nemi das Wort ‚die Majestät des Todes‘ zusammenstellt, so sieht man, dass die beiden eins sind.
Das Leben des Priesterkönigs stellt das dar, was mit jenem Wort gemeint ist.
Wer von der Majestät des Todes ergriffen ist, kann dies durch so ein Leben zum Ausdruck bringen. – Dies ist natürlich auch keine Erklärung, sondern setzt nur ein Symbol für ein andres. Oder: eine Zeremonie für eine andere.“
Dies ist die Weise, wie wir Rituale verstehen: Wir halten eine uns bekannte Zeremonie neben eine noch unbekannte, um so deren Wesen zu begreifen. Wenn wir bekannte Symbole, zum Beispiel den Sensenmann oder einen Totenkopf mit einer Krone – in einen Zusammenhang mit der Ermordung des Priesterkönigs von Nemi stellen, helfen sie uns beim Verständnis dieses Rituals.
Rituale dienen weder der Erkenntnis noch einem Zweck. Sie führen nichts im Schilde. Wenn ich die Kerzen auf meinem Geburtstagskuchen ausblase, will ich damit keine weiteren Ereignisse beeinflussen. Wir handeln auf eine bestimmte Weise – und sind damit zufrieden.
„[…] das Prinzip, nach dem diese Gebräuche geordnet sind, ist ein viel allgemeineres […] und in unserer eigenen Seele vorhanden, so dass wir uns alle Möglichkeiten selbst ausdenken könnten.“
Rituale: Bundeswehr (Fahneneid), Modenschau, Rockkonzerte, Fußballnationalmannschaft (Hymne), Preisverleihungen, Hochzeit, Beerdigung, Festessen.
Das Ritual bindet im Gegensatz zur Unterhaltung alle Anwesenden ein. Es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob man eine Dommesse als Zuhörer oder Gläubiger besucht. Letztere, so Wittgenstein, unterscheiden sich von Ersteren, indem ihr ganzes Leben von der Religion durchdrungen ist. Wer die Bibel als Literatur konsumiert, erfährt etwas anderes als ein Gläubiger, der darin liest.
„Unsere Seele will anders als der Verstand ‚erlöst‘ werden, und wem dies zuteilwurde (Wittgenstein selber wohl während des Ersten Weltkriegs), ist danach nicht mehr in der Lage, von Herzen zu zweifeln. ‚…sei erst erlöst & halte an Deiner Erlösung (halte Deine Erlösung) fest – dann wirst Du sehen, dass Du an diesem Glauben festhältst. Das kann also nur geschehen, wenn Du dich nicht mehr auf diese Erde stützt, sondern am Himmel hängst. Dann ist alles anders und es ist ‚kein Wunder‘, wenn Du dann kannst, was Du jetzt nicht kannst. (Anzusehen ist freilich der Hängende wie der Stehende aber das Kräftespiel in ihm ist ja ein ganz anderes & er kann daher ganz anderes tun als der Stehende.)“
Wittgenstein begann ursprünglich zu philosophieren, um das Wesen der Mathematik zu erhellen, und seinen Befunden zufolge beruht sie auf den von allen geteilten Gewohnheiten einer größeren Gemeinschaft.
Rituale sind in diesem Sinne „mathematische Formationen“ oder „Verläufe“, möglichst elegant und mühelos.
Die Rituale als Sinneinheiten unserer Gesellschaft wären das, in was sich Zuwanderer integrieren ließen.
Es könnten zu diesem Zweck eigene (neue) Rituale gestiftet werden – wenn der Wert solcher „Keimzellen der Bedeutung“ erkannt würde.