Zitat 1: Man sah den Drang, sich zu bilden, bei Ochsentreibem nicht gern. Selbst die Aufseher nahmen es ihnen übel. Wer beim Lesen erwischt wurde, der galt vor dem Ersten Weltkrieg als ein Mensch mit Herrentendenzen, nach dem Krieg als Kommunist. Wer in den Genuß selbst der primitivsten Segnungen der Zivilisation kam, wurde mit scheelem Blick angesehen. Ein Kutscher wurde von der Puszta K. nur deshalb entlassen, weil er sich im November beim Hantieren mit der Sämaschine Handschuhe anzog. »Du meine Güte, wie anders war es zu meiner Zeit!« seufzten die älteren Verwalter, wenn sie sahen, daß ein Ochsentreiber Hosenträger trug. Als die Bauernmädchen anfingen, sonntags Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen, weissagten die Frauen der besseren Stände den Zusammenbruch der sittlichen Ordnung und zerbrachen sich den Kopf darüber, wie man in Zukunft ein Dienstmädchen von einer Dame unterscheiden könnte. Ein Ochsentreiber, der sich nicht roh und gemein benahm oder wenig fluchte, erregte Verdacht, und man fragte sich, warum er so fein geworden wäre. Die Ursache von all dem war, daß man von einer Besserung der Sitten auch das Erwachen eines »Herreninstinktes« befürchtete. Eigentümlicherweise — denn sie waren ja selbst Herren! — folgerten sie daraus das Uberhandnehmen der Verweichlichung, der Unzuverlässigkeit, ja sogar der Neigung zum Diebstahl.
Zitat 2: Die Mütter und Großmütter brachten Kinder zur Welt und schoben mit der Zähigkeit der unter dem Erdboden hausenden Insekten ihre Brut ans Sonnenlicht. Sie selber verblieben im feuchten Dunkel und speicherten aus den Abwässern Kräfte auf, die sie für die Nachkommen zu Nährstoffen verarbeiteten. Ging die Umwandlung in zu schnellem Tempo vor sich? Die zweite Generation torkelte geblendet vom hellen Licht, betrunken von der kräftigen, frischen Luft und verlor nur zu bald den Boden unter den Füßen. Sie gedieh . . .ja! Wie ein aus gemäßigten Zonen in die Tropen verpflanztes Gewächs entwickelte sie sich in prangender Üppigkeit, doch gerade diese hochschießende Pracht ließ darauf schließen, daß sie sich selbst verzehrte. Sie wuchs, durch eine Art krankhafter Leichtgläubigkeit getrieben, immer höher, aber gleichzeitig entfernte sie sich auch immer mehr von den Wurzeln. Die jungen Leute waren »erfolgreich«. Das von ihnen übernommene Tempo trieb manche in hohe Sphären. Doch je höher sie stiegen, desto größer wurde die Vereinsamung. Während die Väter in der Sicherheit des Gemeinschaftsgeistes und der Schicksalsverbundenheit lebten, begaben sich die Jungen auf schwankenden Boden. Sie verloren das Gleichgewicht und beschleunigten aus ihrem inneren Zwiespalt heraus — wenn nicht bei sich selbst, so bestimmt bei den Söhnen — das Verhängnis. Sie waren im Grunde genommen harmlos, aber unsympathisch. Waren sie Verräter? Sie wußten es selber nicht, denn es kam ihnen gar nicht in den Sinn, darüber nachzudenken. Ihre Seele war aber die eines Verräters; oder sie hatten im besten Falle das unruhige, selbstverzehrende Gemüt eines Verbannten.
DIE PUSZTA Kapitel 19 – Die Emporgestiegenen. Die zweite und dritte Generation. Der Weg nach oben.
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