Das spirituellste Erlebnis meines Lebens hatte ich nicht in der Kirche oder anläßlich irgendeines der Events, die heute den Gottesdienst vertreten, sondern an Bord der RMS St. Helena vor der Küste Kapstadts. Die RMS war ein königliches Postschiff, welches die Britische Kronkolonie St. Helena mit dem Mutterland verband. Sie kam mit 15 km/h von Cardiff über Teneriffa zur Insel St. Helena im Atlantik, fuhr weiter nach Kapstadt und immer dieselbe Strecke wieder zurück. An Bord ging es gemächlich zu unter den nie mehr als 50 Passagieren – viele-viele Tage stampften wir ereignislos durch die Wellen des Atlantiks. Nach dem Ablegen kitzelte einen bald die Seekrankheit und ließ den nicht mehr los, der ihr nicht auf der Stelle trotzte und ungeachtet von Übelkeit und Brechreiz in dem kleinen Speisesaal alles hinunterwürgte, was das Büffet zur Schau stellte. Nur dann hatte man nach ca. 12 Stunden eine Chance auf innere Ruhe. Auf St. Helena lebten die 4.000 Bewohner in kleinen Siedlungen abgekapselt vom Rest der Welt. Es gab noch keinen Flughafen, nur das Postschiff schaukelte alle 1 1/2 Monate vorbei. Nach Kapstadt waren wir 5 eintönige Tage unterwegs, näherten uns gerade der Stadt bei Nacht, da entstand Unruhe. Die Passagiere signalisierten untereinander, dass es etwas Außerordentliches zu sehen gäbe. Auch ich hielt Ausschau und erfuhr, es gäbe ein kleines Mädchen an Bord, das gerade zum ersten Mal in ihrem Leben eine Stadt sehen würde. Sie war 10 Jahre alt und rannte die Fenster der oberen Galerie entlang. Zwischendurch winkte sie einen erregt heran, das Ungeheuerliche mit ihr zu teilen. Sie kletterte auf die verschiedenen Decks, immer wieder die Fenster suchend, durch die sie sich nie satt sehen konnte, den Umstehenden die frohe Botschaft zurufend. Kapstadt bei Nacht vom Meer aus bietet einen großartigen Anblick, glitzernde Diamanten, hingestreut vor den von Lichtfingern erhellten Altar des Tafelbergs. Trotzdem lag etwas in der Begeisterung des kleinen Mädchen, das uns betroffen machte. Denn sie sah – dasselbe, was wir täglich sehen, aber auch die allzeit darin liegende Offenbarung. Es ist ein Wunder, dass es diese Welt gibt – dass sie gerade so ist, wie sie uns anspricht. Es erreicht uns durch unsere Sinne und lässt keine Frage offen.
Kapstadt
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