Wer Empörung zeigte, galt immer als zuverlässig

Bewährte Worte verloren ihre Bedeutung und besagten ihr Gegenteil. Tollkühnheit war auf einmal Mut, kluges Zögern unmännlich, Mäßigung galt als Vorwand für Feigheit und die Fähigkeit, mehrere Seiten in Betracht zu ziehen, als Impotenz. Rasende Gewalt stand im Rufe der Mannbarkeit, Hinterlist lief unter Notwehr. Die Befürworter äußerster Maßnahmen waren immer vertrauenswürdig, ihre Gegner lichtscheues Gesindel. Um eine abgekartete Sache erfolgreich durchzuführen, musste man ein kluger Kopf sein, um sie zu erahnen, ein noch klügerer; zu versuchen aber, beides zu verhindern, bedeutete, der eigene Partei zu schaden und Angst vor dem Gegner zu zeigen. Einem vermuteten Angriff zuvorzukommen oder die Vorstellung eines solchen zu erwecken, wo sie fehlte, wurde gleichermaßen empfohlen. Bis sogar die Familie ein schwächeres Band wurde als die Partei… Den fairen Vorschlägen eines Gegners begegnete der Stärkere mit lauernder Vorsicht und nicht mit großzügigem Vertrauen. Auch wurde die Rache höher bewertet als die Selbsterhaltung. Versöhnungsschwüre, von beiden Seiten nur angeboten, um eine unmittelbare Schwierigkeit zu überwinden, galten gerade so lange, wie keine andere Waffe zur Hand war; wenn aber eine Gelegenheit sich bot, hielt derjenige, der es zuerst wagte, sie zu ergreifen und seinen Feind hinters Licht zu führen, solche hinterhältige Rache sogar noch für süßer als eine offene, da er, ungeachtet von Erwägungen der Vorsicht, durch den Erfolg des Verrates den Triumph seiner überlegenen Intelligenz genoss. Denn wir Menschen ziehen es nun einmal vor, Schurken für klug zu halten, statt Leichtgläubige für ehrlich, und scheuen so sehr davor zurück, nur zweiter, wie wir stolz darauf sind, der erste zu sein.

Thukydides DER PELOPONNESISCHE KRIEG