“Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten” schreibt Karl Marx – überraschend als Theoretiker der Literatur – in seiner Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie.
Doch seine Einsicht passt. Denn die nicht wieder herstellbare Großartigkeit der Klassiker verdankt sich vor allem der Naivität ihrer Figuren. Weder im Gilgamesch-Epos noch in der Ilias, noch in der Odyssee werden die Menschen gut oder böse gemalt. Die hinreißenden Geschichten bezaubern mich nicht durch die Schilderung der Verhältnisse ihrer Gesellschaft und lassen sich auch nicht deuten oder besser verstehen durch deren Nachvollzug. Vielmehr öffnen sie sich dem Blick einfach fürs Lebendigsein. Der Krieg zwischen Griechenland und Troja ist nicht der Krieg zwischen zwei Staaten oder unterschiedlichen Gesellschaftsformen und hat nichts zu tun mit Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Es handelt sich allein um die Auseinandersetzung der Helden zweier Stadtstaaten um Helena, eine wunderschöne Frau. Anstatt eine Lösung auf dem Verhandlungswege zustande zu bringen, stürzt Griechenland sich in einen blutigen Krieg, der über 10 Jahre dauert. Diese Tat allein ist vollkommen kindlich. Helena ist kein Gegenstand von idealem Wert, veranschaulicht ausschließlich Schönheit. Die Helden aber, die um sie kämpfen, bestechen durch ihre Bereitschaft, ihr Blut bloß für die Schönheit zu vergießen, für ihre persönliche Würde und ihre Stadt. Ohne weiter nachzudenken, sind alle ergriffen allein von ihrem Schicksal, bestimmt durch ihren Typ und dessen unschuldige Art. Homer fällt weder ein politisches noch ein moralisches Urteil über die Helden oder die schöne Frau. Frei von zielgerichteter oder ethischer Einschätzung und von der Vorstellung von Gut oder Böse, widmet sich sein Epos ausschließlich der Betrachtung und Aufführung von Schönheit, Würde, Weisheit und Unermesslichkeit des Lebens. Es ist solche Vorführung von Anmut und Genie, die nach Marx “nicht im Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe”, steht, “worauf sie wuchs. Ist vielmehr ihr Resultat und hängt vielmehr unzertrennlich damit zusammen, daß die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstand und allein entstehn konnte, nie wiederkehren können.”
Dazu Homer: “Wie Artemis, die Bogenschützin, fröhlich durchs Gebirge voranjagt, über die Höhen des Taygetos oder die Gipfel des Erymanthos, Eber und flinke Hirsche vor sich hertreibend, und mit ihr die Nymphen der Flure spielen, die Kinder des Zeus, des Herrschers der Aigis, und Leto zusieht voller Genugtuung, denn ihre Tochter, die stolze Jungfrau, überstrahlt die anderen Mädchen alle – obwohl auch die sehr schön sind –, so übertraf auch Nausikaa alle in ihrer blühenden Anmut.”
Eine solche Anziehungskraft ist inzwischen nur in Kinder-, bestenfalls Jugendromanen möglich. Astrid Lindgrens Die Kinder von Bullerbü fällt mir ein, Der Fänger im Roggen oder Tschick. Aber auch der fabelhaft chinesische Klassiker Traum der roten Kammer, der weitgehend unter 12- bis 15-jährigen in der fantastischen Landschaft eines weitläufigen Gartens spielt.