Endlich mal diesen Roman gelesen, nachdem ich unendlich davon gehört hatte: Kipling hält Haggards Einbildungskraft für unübertroffen; Graham Greene meinte, die Bilder des Romans »nach 30 Jahren noch« im Gedächtnis zu haben; Henry Miller: »Vielleicht können wir das wahre Format Rider Haggards erst ermessen, wenn unsere Wissenschaftler auf die Wahrheiten kommen, die seine Einbildungskraft schon gesehen hatte.«
Oberflächlich ist es ein Abenteuerroman, der allerdings eine vollendet fantastische Welt aufsucht, die dem allgegenwärtigen Tod abgerungen ist, eine perfekte Ausmalung dessen, was wenig später die Psychoanalyse mit ihren Begriffen versah. Wie im Traum geht es oft nur mit gelähmten Schritten voran, unterbrochen von jähen Szenen, die man nie wieder vergisst. Haggard soll den Roman in einer Art Trance geschrieben haben.
Horace Holly, das alter ego des Autors, ein hässlicher Intellektueller um die 40, von den Eingeborenen zärtlich »Pavian« genannt, fasst, worum es geht, in einer Meditation zusammen, die ihn in einem Malaria-Sumpf kurz vor seinem exotischen Reiseziel am Einschlafen hindert:
So lag ich denn da und sah, wie Tausende von Sternen auffunkelten, bis der ganze ungeheure Himmelsbogen mit glitzernden Punkten übersät war – und jeder war eine Welt! Es war ein herrlicher Anblick, der einem bewusst machte, wie unbedeutend doch der Mensch ist! Doch bald gab ich es auf, darüber nachzudenken, denn der Verstand ermüdet leicht, wenn er die Unendlichkeit zu durchdringen und den Fußspuren des Allmächtigen auf seinem Weg von Sphäre zu Sphäre zu folgen und seinen Willen in seinen Werken zu erkennen sucht. Diese Dinge entziehen sich unserer Kenntnis. Zu viel Wissen würde uns vielleicht blenden, zu viel Stärke uns trunken machen und unseren schwachen Verstand überwältigen, bis wir ihn verlören und in den Tiefen unserer Nichtigkeit versänken. Denn wozu verwendet der Mensch vor allem sein vermehrtes Wissen, das er seinem hartnäckigen und dabei so kurzsichtigem Forschen im Buche der Natur verdankt? Bezweifelte er nicht gar zu häufig die Existenz seines Schöpfers und jegliche höhere Vernunft, welche über seine eigene hinausgeht? Die Wahrheit ist verschleiert, weil wir ihren Anblick ebenso wenig ertragen könnten wie den der Sonne. Sie würde uns zerstören. Die ganze Wahrheit ist für den Menschen nicht fassbar, denn sein Geist, von dessen Größe er so viel hält, ist nur sehr klein. Das Gefäß seines Geistes ist bald gefüllt, schon ein winziger Tropfen von der Kraft und Weisheit, die jene unendlichen Sphären erfüllt und bewegt, würde ihn zersprengen. Vielleicht wird es an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit anders sein – wer weiß? Hier auf Erden ist das Los des Menschen, Mühsal und Plage zu erdulden, nach den Seifenblasen des Schicksals, die er Freuden nennt, zu haschen und dankbar zu sein, wenn er eine, bevor sie platzt, einen Augenblick in der Hand zu halten vermag; und ist das Trauerspiel zu Ende und seine letzte Stunde da, muss er demütig von hinnen gehen, in ein Land, dass er nicht kennt.
Diesen und vielen anderen Gedanken ging ich nach in jener Nacht. Wie oft quälen sie doch den Menschen! Ja, quälen, sage ich, denn das Denken macht uns die Hilflosigkeit des menschlichen Verstandes erst recht bewusst. Was ist doch unsere schwache Stimme in der unendlichen stummen Weite des Weltraums? Kann unsere schwache Intelligenz die Geheimnisse jenes sternenübersäten Himmels enträtseln? Wird uns je eine Antwort zuteilwerden? Nie und nimmer – nichts als ein Echo und fantastische Visionen! Und dennoch glauben wir, dass es eine Antwort gibt und dass dereinst eine rosige Dämmerung die Nacht, durch welche wir uns tasten, beenden wird. Wir glauben es, denn jenseits des Grabes leuchtet der Widerschein ihrer Schönheit schon jetzt in unser Herz, und wir nennen sie Hoffnung. Ohne Hoffnung würden wir den moralischen Tod erleiden, mithilfe der Hoffnung aber können wir vielleicht doch zum Himmel aufsteigen oder im schlimmsten Fall, wenn auch sie nur freundliches Blendwerk sein sollte, das vor Verzweiflung uns bewahren soll, sanften hinabsinken in die Abgründe ewigen Schlafes.
*
Sodann dachte ich über das Unternehmen nach, auf das wir uns eingelassen hatten. Wie fantastisch war es doch, und dennoch schien alles so seltsam mit der jahrhundertealten Inschrift auf der Scherbe überein zustimmen! Wer war jenes mystische Weib, das inmitten der Reste einer längst versunkenen Kultur als Königin ein ebenso sonderbares Volk beherrschte? Und was bedeutete diese Geschichte von dem Feuer, das ewiges Leben spendet? War es möglich, dass es irgendeine Flüssigkeit oder Essenz gab, welche die Mauern des Fleisches so verstärkte, dass die Beschüsse des Verfalls ihnen nichts anhaben konnten? Es war möglich, doch nicht wahrscheinlich. Die unendliche Verlängerung des Lebens war sicher nicht, wie der arme Vincey meinte, etwas so Wunderbares wie die Erzeugung des Lebens und seine zeitlich begrenzte Dauer. Doch wenn es stimmte – was dann? Wer es fand, konnte zweifellos die Welt beherrschen. Er konnte sich alle Schätze der Welt und alle Macht und alles Wissen, das Macht bedeutet, aneignen. Er konnte dem Studium jeder Kunst und jeder Wissenschaft ein Lebensalter widmen. Wenn dies wirklich stimmte und diese ›Sie‹ tatsächlich unsterblich war, was ich nicht einen Moment lang glaubte – warum hausten sie dann, obwohl sie über solche Macht verfügte, in einer Höhle unter Kannibalen? Nein, es gab Zweifel: diese ganze Geschichte war Unsinn, nichts als ein Ausfluss der abergläubischen Zeit, in der sie niedergeschrieben worden war. Auf jeden Fall würde ich nicht versuchen, Unsterblichkeit zu erlangen. In den etwa vierzig Jahren, die ich auf Erden wandelte, hatte ich schon zu viele Enttäuschungen und Bitternisse erfahren, um mir eine endlose Verlängerung dieses Zustandes zu wünschen. Und dennoch glaube ich, dass mein Leben verhältnismäßig glücklich gewesen ist.
Als ich mir dann noch sagte, dass im Augenblick eine plötzliche Beendigung unserer Erdenlaufbahn viel wahrscheinlicher war als eine unendliche Verlängerung, schlief ich endlich ein – wofür jeder, der diesen Bericht liest, falls dies überhaupt jemand tut, sicherlich überaus dankbar sein wird.
Beim Lesen fiel mir immer wieder die erschütternde Stelle 6.4312 aus Ludwig Wittgensteins Logisch-philosophischer Abhandlung ein:
Die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges Fortleben nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer mit ihr erreichen wollte. Wird denn dadurch das Rätsel gelöst, dass ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige? Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.
Die zweitausendjährige Anti-Heldin des Romans hat (beinahe) ewiges Leben, grenzenlose Macht erreicht. Lassen wir sie selber zu Wort kommen:
Ist es denn ein Verbrechen, o du törichter Mann, hinwegzuräumen, was zwischen uns und unseren Zielen steht? Dann ist unser Leben ein einziges Verbrechen, mein Holly; denn Tag um Tag zerstören wir um dieses Lebens Willen, weil in dieser Welt nur die Stärksten sich durchsetzen können. Die Schwachen müssen untergehen; die Erde und ihre Früchte sind nur die Starken. Für einen Baum, der wächst, verdorren zwanzig andere, damit der Raum hat. Über die Leichen derer hinweg, die zu schwach sind und fallen, eilen wir zu Macht und Ruhm; ja wir entziehen die Nahrung, die wir essen, dem Munde hungernder Kinder. Das ist der Plan der Welt. Du sagst, ein Verbrechen zeugt Böses, doch darin fehlt dir die Erfahrung; denn aus Verbrechen kommt oft Gutes, aus Gutem oft Böses. Der grausame Zorn des Tyrannen kann zu einem Segen werden für tausende, die nach ihm kommen, und die Güte des Heiligen kann ein Volk versklaven. Dieses und jenes tut der Mensch aus Güte und Bosheit und weiß doch nie, was daraus erwachsen wird; denn wenn er zum Schlag ausholt, weiß er nicht, wohin der Schlag fallen wird, noch kann er die hauchdünnen Fäden zählen, welche die Umstände weben. Gut und Böse, Liebe und Hass, Nacht und Tag, Süßes und Bitteres, Mann und Frau, der Himmel über und die Erde unter uns – all dies ist notwendig, eins fürs andere, doch wer kennt von allem das Ende? Glaube mir, es gibt eine Schicksalshand, die, ihrem Zweck zu dienen, all diese Fäden zusammen flicht zu jenem großen Band, zu dem all diese Dinge notwendig sind. Deshalb steht es uns nicht an zu sagen, dies ist gut und jenes böse, oder das Dunkel ist hässlich und das Licht schön; denn anderen Augen als den unseren mag das Böse gut und das Dunkel schöner als der Tag erscheinen, alles gleich schön. Hörst du, mein Holly?
Sie verstrahlt die unbekümmerte Härte des restlos emanzipierten Menschen und bleibt doch unfrei, weil ihr der Anschluss fehlt. Sie lauert immerzu, ihr Glück in die Wege zu zwingen – mit wahnwitzigen Manövern, deren Schilderung zum Höhepunkt des Romans gehört. Während ihre emotionale Widersacherin in verzweifelter Größe von der Weigerung verschlungen wird, sich moralisch zu kompromittieren.
Die Männerfiguren entkommen schließlich nur gerade eben einem Orkan der Leidenschaft, welche spontan ihnen so gar nicht erst zur Verfügung zu stehen scheint.