Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. GRUNDLINIEN DER PHILOSOPHIE DES RECHTS 27-28
Für Hegel hat die Philosophie kaum politisches Potential. Anstatt eine alternative Zukunft auszumalen, versteht sie sich darauf, herrschende Lebensformen zu erkennen. Diese Vorgehensweise schafft nichts Neues – stellt nur heraus, welche Widersprüche verfangen.
Philosophische Versuche, die Welt zu verändern, würden nur wiederholen, was sie umgestalten wollen; denn Philosophie kann die Lebensform, der sie entspringt, nicht austauschen. Wer eine andere Zukunft voraussagt, tut es in Begriffen, welche die Gegenwart ihm zur Verfügung stellt. Platos Staat war kein Gegenentwurf zu der griechischen Gesellschaft seiner Entstehungszeit, sondern ein Ausdruck deren innerer Logik. Unsere Möglichkeiten sind immer Funktionen, keine Herausforderung unserer Lebensform. Philosophen, die praktischen Rat erteilen, folgen unausweichlich den Regeln des Systems, das sie versuchen in Frage zu stellen.
Philosophie schreitet nach Hegel ein, indem sie verklart, was Sache ist. Ihre Deutungen bilden ab, wie sich die Dinge zueinander verhalten. Damit machen sie ebenso kenntlich, was aus der herrschenden Ordnung herausfällt: das Merkmal, welches den Widerspruch einer Epoche ausdrückt. Das absolute Verständnis deutet nicht nur jede Sache an ihrem Platz, sondern auch, was nirgends hinpasst und den Zusammenhang dadurch untergräbt. Man entdeckt den Fremdkörper durch Interpretation und Verständnis, nicht indem man sich eine Überwindung des Widerspruchs im gesellschaftlichen Gefüge vorstellt.
Statt vorzuschlagen, wie eine Gesellschaft ihrer Widersprüche Herr werden kann, zeigt Hegel, warum bestimmte Lösungen (Wohltätigkeit, Kolonialisierung . . .) die Herausforderung nicht tilgen würden. Zu mehr ist die Philosophie nicht in der Lage. Ihre politische Wirkung besteht bestenfalls in der Enthaltsamkeit hinsichtlich philosophischer Unterfütterung von Lösungen herausfordernder Lagen.
Sobald Philosophen Alternativen vorschlagen, beschneiden sie ihre Deutungskraft und schaffen den Eindruck, die Grundspannung könnte überwunden werden durch eine Umordnung gesellschaftlicher Verhältnisse.
Marx beispielsweise arbeitet als Widerspruch kapitalistischer Verhältnisse eine Grenze heraus, die, nicht zum System gehörend, eben dieses hervorbringt. Diesen Zustand möchte er anschließend überwinden. Das Problematische daran ist der Lösungstraum und die darin liegende Verdunkelung des ontischen Widerspruchs auch in jeder weiteren Entwicklung, die Unfähigkeit zu erkennen, wie Verhältnisse durchs Absehen von ihnen stabilisiert werden.
Die Vorstellung einer Alternative, welche das Widersprüchliche aus der Welt schaffen würde, ist eine Funktion der Logik, die sie infrage stellt.
Indem wir, was je verfängt, vollständig begreifen, können wir jenen Webfehler markieren, der das System verwundbar macht. Das schafft sowohl die Möglichkeit der Veränderung wie den Aufweis, dass die Wunde auch durch keine Revolution zum Verschwinden gebracht werden kann. Eine Gesellschaft kann einen bestimmten Widerspruch überwinden – um sich einen anderen einzuhandeln. In dieser Erkenntnis liegt kein Aufruf zum Quietismus, sondern ein Ansporn. Der Witz politischen Handelns besteht darin, auf einen immer robusteren Widerspruch zu kommen, und die Philosophie spielt eine wesentliche Rolle in dieser Bewegung.
So lautet Hegels Bestimmung des Fortschritts: die Bewegung von einfacher zu lösenden gesellschaftlichen Widersprüchen zu solchen, die sich behaupten.