Einmal wöchentlich verkehrt die staatliche Airline Ariana zwischen Frankfurt und Kabul – die einzige Interkontinental-Verbindung nach Afghanistan.
Das Visum des afghanischen Generalkonsulates im Pass, kann man los fliegen mit einer bunten Truppe, die sich allwöchentlich im Untergeschoss des Frankfurter Flughafens vor dem Ariana-Schalter drängelt. Ihre Maschine, ein von Indien geschenkter Airbus, wartet weiter draußen auf einem der Billigparkplätze, zu erreichen nach kurviger, kaum enden wollender Busfahrt. Ausgeleierte Sitze, versagende Leselichter und Toiletten, die Flugtechnik aber soll in Topform sein; sonst dürfte man ja, heißt es trotz gegenteiliger Gerüchte beruhigend, in Frankfurt gar nicht erst landen.
Wer sind die Mitreisenden, die drei jungen Frauen etwa in der ersten Reihe am Mittelgang? Kursleiterinnen, stellt sich heraus, die in Masar-i-Sharif Journalisten ausbilden sollen. Der ständige Windjackenträger mit Sporttasche? Ostdeutscher Kieferchirurg in einem Bundeswehrhospital. Der grau melierte schlanke Riese in Blue Jeans? Ein französischer Bildberichterstatter aus New York. Alle haben sie irgendein Projekt in Kabul, meist im Namen der internationalen Gemeinschaft beziehungsweise einer von ihr unterstützen NGO (non government organisation). An die zweitausend NGOs sind registriert in Kabul, bohren Brunnen, bauen Straßen, entwerfen Vertriebspläne für landwirtschaftliche Produkte oder digitalisieren die vor der Verbrennung durch die Taliban gesicherten Negative des nationalen Filmarchivs. Touristen fliegen so gut wie gar nicht mit von Frankfurt nach Kabul, wenngleich es ihnen nicht verboten ist; man rät nur davon ab. Fast alle halten sich daran. Wodurch Kabul eine der wenigen praktisch touristenfreien Zonen dieses Erdballs ist.
Die Ariana-Maschine landet zwischen zum Auftanken in Istanbul. Danach geht’s Richtung Hindukusch. Weiße Bergspitzen wachsen einem entgegen fast unter die Flügel. Kabul liegt schließlich in einem baumlosen Hochkessel, grau-braun überzogene Würfelchen erst nur im Bronzeschein der Morgensonne, zu denen der Airbus in enger Kurve hinunterzittert. Der Anflug verlangt Hochgebirgserfahrung wie sonst nur in den Anden; viele der angestellte Piloten in Afghanistan sind in der Tat Peruaner.
Zwischen die Häuseranhäufungen ragen staubige Anhöhen, zum Teil punktiert von, wie es scheint, hineingebohrten Höhlen. Wohnanlagen? Artilleriestellungen? Inzwischen sieht man Autos über die Straßen kriechen, immer mehr Autos. Beim Landen auf der Schlaglochpiste durchschüttelt es den alten Airbus. Draußen fliegt altes, ausgebranntes Kriegsgerät vorbei; dann erscheinen die sandsackbewehrten Wachtürme der Bundeswehr unter schwarz-rot-goldener Fahne, dahinter das kleine Flughafengebäude – „Welcome to Kabul“ – mit Plakaten nicht etwa des Präsidenten, sondern des getöteten Militärobersten Ahmad Shah Masood, dessen Nachfolger als Verteidigungsminister mit Privatarmee der eigentlich starke Mann in Kabul sei, heißt es.
Die Abfertigung erfolgt mit deutsche Gründlichkeit, die Beamten wurden schließlich von Deutschen trainiert. Mit dem Koffer in der Hand vor das Gebäude tretend, empfangen einen die Taxifahrer. Die Fahrt ins Hotel gestaltet sich ohne weitere Probleme. Das Straßenbild zeigt zunächst wenig bis gar nichts von den erwarteten Spuren des Krieges. Kleine Geschäfte und Werkstätten säumen die irdenen Bürgersteige. Die Häuser sind fast niemals höher als ein Stockwerk (Kabul ist Erdbebengebiet). Neugierig sucht der Blick zwischen den herumlaufenden Männern nach einer Frau und entdeckt sie manchmal – über den hohen Bordstein kletternd, kleine, verrotzte Kinder an der Hand oder im Schoss – fast immer in den blau gefältelten Granzkörperschleier der Burka gehüllt. Dessen Oberteil lässt sich zurückschlagen, und man sieht die meist bleichen, etwas abgespannten Gesichter dahinter durch die verstaubten Scheiben der vorbeischaukelnden, überfüllten Stadtbusse.
Bald herrscht dichtester Verkehr, Stossen und Zerren zwischen den geriffelten Beton-Verkehrsinseln der Hauptkreuzungen, auf denen ebenfalls von Deutschen ausgebildete Polizisten den Fluss der qualmenden Wagen regeln, erstaunlich reibungslos. Selbst Fußgänger müssen auf den Straßen Kabuls viel weniger als etwa in Indien oder Pakistan um ihr Leben fürchten. Ab und zu kommt es zu Sperrungen; dann rauschen die Panzerwagen der kanadischen, französischen oder deutschen Schutztruppen vorbei, martialisch mit vermummtem Schützen im Ausguck. Der Eindruck soll einschüchtern und vermitteln, dass hier Ordnung herrscht, gegebenenfalls auch verteidigt wird. Ein Versprechen, welches sich bisher zwar noch nicht hat bewähren müssen, aber Kabul doch zum sichersten Ort Afghanistans gemacht hat. Die Chancen für einen Besucher, hier – auch mitten in der Nacht – zu Schaden zu kommen, sind geringer als z.B. in Johannesburg oder Rio de Janeiro.
Bald fallen einem hohe Mauern auf, bewehrt mit Stacheldrahtrollen, unterbrochen von Wachtürmen, dahinter offizielle Einrichtungen: Regierung, Militär und Auslandsvertretungen. Die gewaltigsten Verteidigungsanlagen weist die amerikanische Botschaft auf, das eigentliche Machtzentrum Afghanistans. Nachts ist sie in gleißend helles Licht getaucht wie ein in feindlicher Umgebung gelandetes Raumschiff. Hier empfiehlt es sich nicht, Fotos zu machen oder länger anzuhalten.
Im Hotel merkt man bald, dass ein Ausländer in Kabul entweder Journalist, Mitarbeiter einer Hilfsorganisation oder – letzten Endes – Glücksritter ist. Sie verkehren in besonders gekennzeichneten Fahrzeugen zwischen ihrer Arbeitsstelle, den Internet-Cafés und einer Reihe besonderer Restaurants, die für solche Klientel entstanden sind und sich vermehren, darunter etwa auch ein „Deutscher Hof“, betrieben von ehemaligen Köchen des Bundeswehr. Wie immer in der Fremde ist das Deutschtum hier mit Heino und den Wildecker Herzbuben als Hintergrundmusik deutscher als in Deutschland; man geniert sich etwas mitzumachen, erfährt so aber, was alles Sache ist in der erstaunlich großen deutschen Gemeinde Kabuls. Dass es hier etwa Vorbestrafte gibt, die im Begriff sind, eine Fluggesellschaft zu gründen. Wie man 500% Gewinn mit Bauaufträgen der Vereinten Nationen machen kann. Das Goethe-Institut bereite eine Antigone-Aufführung in der Akademie der Künste vor, und in der Nationalgalerie gibt es eine Ausstellung des einzigen deutschen Kriegsfotografen in Afghanistan. Egal in welcher deutschen Zeitung, die Afghanistan-Fotos kämen letztlich von ihm, einem pfadfinderhaften Ostdeutschen, der mit 10.000 am Leib verstecken Euros den Feldzug der Nordallianz nach Kabul begleitete und als einziger Sterblicher das Taliban-Gefangenenlager des General Dostum von innen gesehen haben soll.
Allein das Abklappern solcher Restaurant-Stützpunkte gibt einen faszinierenden Einblick in die Funktionsweise der „internationaler Gemeinschaft“. Warum besteht sie offenbar zur Mehrzahl aus allein stehenden Frauen? Weil besonders Frauen das Schicksal ihrer afghanischen Schwestern so nahe geht, das sie es verbessern wollen? Oder stimmt, was eine Mitarbeiterin des Goethe-Institutes vermutet: dass man in angespannter Wirtschaftslage als Frau nur durch gesteigertes Auf-sich-nehmen – z.B. auch der Unattraktivität eines Einsatzortes wie Kabul – seine Karriere noch befödern könne?
In „Chicken-“ und „Flower-Street“, den Touristenmeilen der Hippie-Zeit, warten die Fellmantel- und Lasurstein-Läden nach wie vor auf Kundschaft. Dahinter geht es die bald überquellende Straße hinunter zum großen Bazar entlang des trocken liegenden Kabulflusses. Hier decken die Bewohner der Hauptstadt sich mit allem Lebensnotwendigen ein, und der Spaziergänger wird gefesselt durch ein vom Touristenschnickschnack unbeeinflusstes fast mittelalterliches Treiben, bis ein paar Bettlerkinder ihn entdeckt haben und keine Ruhe mehr geben. Jedes Almosen zieht neue Hüpfer an. Fast alle von märchenhafter Schönheit unter der dreckigen Kruste auf Gesicht und Haaren.
In der Mitte Kabuls ragt ein bronzener Bergrücken, gekrönt von einem Ex-Ausflugslokal, jetzt kleiner Stützpunkt der ausländischen Schutztruppen. Wenn man hinaufklettert zwischen den Lehmziegelhäusern in den Lapislazuli-Himmel, wie er nur über Kabul blaut, gerät fast in Vergessenheit, dass von diesem malerischen Ort die Stadt im Bürgerkrieg mit Geschossen eingedeckt wurde. Überall liegen noch verrostete Hülsen herum. Unten dehnt sich die niedrige Stadt in der Feiertagssonne, und man sieht die zerstörten Teile in Reichweite der Artillerie. Damals war die schlimmste Zeit, sind sich die Kabuler einig, nach dem Abzug der Russen der Bürgerkrieg zwischen den Kommandanten. Man wusste niemals, wenn man sein Haus verließ, ob man lebend wieder zurückkehren würde. Unter den Taliban habe danach wenigstens Ordnung geherrscht, auch wenn diese sich dann zur Friedhofsstille verwandelte.
Um den Neustadt-Park leuchten mit Einbruch der Dunkelheit die Holzkohlebecken auf. Darüber zischeln Kebab-Spieße. Das saftige Fleisch wird mit Fladenbroten abgezogen, die man, in Zeitungspapier gewickelt, mit nach Hause nehmen kann. In den erleuchteten Straßenlokalen dahinter plärrt pakistanisches oder indisches Programm aus den Fernsehgeräten. Bald wird hier alles ruhig sein, denn ein Nachtleben gibt es in Kabul nicht, wenn man von den Treffpunkten der Ausländer absieht – und den gelegentlichen Theateraufführungen, die das Goethe-Institut im Schauspielsaal der Universität ermöglicht. So geht man früh zu Bett, wenn man nicht noch jemanden in der Hotelbar trifft, einen Spezialreporter oder pakistanischen Managementberater, der einem Land und Leute aus der Sicht seines von Militärs beherrschten Staats erklärt. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass man Dinge erfährt, die so nicht in den Zeitungen erscheinen.