Es gibt eine EU-Gegend, die 12 Monate jährlich in der Sonne liegt und nicht Kanarische Inseln heißt: das französische Übersee-Departement Le Réunion vor Madagaskar im Indischen Ozean
Nach Mauritius setzt man im Fährboot über, die Seychellen liegen in Kurzflugnähe – trotzdem akzeptieren die Geldautomaten hier EC-Karten, wird für die Einreise kein Pass benötigt – mitten im wärmsten Weltmeer ist man eins mit der EU. Die 750.000 Bewohner von La Réunion sind Franzosen: ein Präfekt wacht über ihren öffentlichen Dienst, in der Regionalversammlung bekämpfen sich die politischen Parteien des Festlands, es gibt drei dicke Tageszeitungen, zum Frühstück Baguette und garantiert nirgends löslichen Kaffee. Trotz der Nähe Afrikas wird fast nicht gebettelt, denn wer kein Einkommen hat, dem hilft der Wohlfahrtsstaat (darunter sogar ein paar Deutschen, die ihre Stütze lieber hier im Sonnenschein beziehen, um davon dann im nahen Madagaskar etwa sogar auf größrem Fuß zu existieren – „Europa“, seine modernen Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen auf La Réunion, sind ja in sicherer Nähe).
Täglich pendeln Großraumflugzeuge vom Mutterland zum Außenposten. Und wenn den Besucher nach langer Luftfahrt, womöglich aus dem Winter kommend, endlich die warme, feuchte Luft der Tropen anwälzt, dann ohne die sonst in solchen Breiten üblichen Hotelvermittler, Gepäckstückträger oder Taxihaie – ganz wie zu Hause schleppt, wer will, die Koffer unbehelligt aus den Ankunftshallen zum gelben Liniendienst, der pünktlich seinen Busbahnhof im Departementhauptort anfährt.
Von diesem weiterführend war im Anflug bereits spielzeugklein die „kostspieligste Autobahn der Welt“ zu sehen gewesen, auf dem Ozean vor einer 15 Kilometer langen grünen Steilwand schwimmend; fast täglich muss man sie von Brocken räumen. Réunion verdankt sich wie Mauritius einem Hauptvulkan, der seit dem Erlöschen vor 10.000 Jahren von Wind und Wetter abgetragen wird. Dreitausend Meter ragt seine kahle Spitze noch in den Tropenhimmel, steil abfallend in drei eingestürzte Magmakammern und flankiert im Süden von einer Neugeburt, dem hochaktiven Piton de la Fournaise. Die gewaltigen Einstürze um den Gipfel tragen die Namen madagassischer Sklaven, welche vor einem Vierteljahrhundert sich von den Zuckerrohrplantagen der Küsten hierein flüchteten, in zerklüftete Bergkessel mit Wasserfällen und senkrecht emporragenden Erosionsinseln; die Dörfer darauf sind noch heute manchmal nur mit Hubschraubern zu versorgen. Für den Wanderer indessen tun sich Hochwelten von seltener Dramatik auf, erschlossen durch markierte Pfade unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades zu gepflegten Hütten als Etappenzielen.
Zwischen der spannenden Bergkulisse der Einsturzkessel und der Mondlandschaft des angedrängten Neuvulkans im Süden ist eine Ebene hochgeschoben worden, auf der man sich zwischen Nebelwald und Weiden in Schottland glaubt – um nur wenige Kilometer nord- oder südöstlich an tropenschwüle Ufer von Zuckerrohr oder Vanillewald hinabzutauchen. In Réunion wirken über 200 verschiedene Mikroklimata. Wie auch sonst nichts hier zur Gänze vorherrscht, auf 72 mal 51 Kilometern Strand wie Felsen, Berge, Märchenwald und Stadtlandschaften vorkommen.
Die Menschen leben hauptsächlich in modernen Orten am Küstenrand oder die äußeren Kesselhänge hinauf zwischen Zuckerrohrfeldern, den Ozean im Blick und leicht gekühlter; denn weiter unten glutet – zumal Dezember–März – der Tropensommer. Das Meer heizt sich in solchen Zeiten auf, die Luft darüber wird schwer von Feuchtigkeit, bis sie die Erdballdrehung nicht mehr mitmacht, verwirbelt und in Zyklonen über der Insel tobt von einer Wucht, die mitunter Flussläufe verändern und jahrtausendelang aktive Quellen verschütten kann. Für Menschen ist es dann bei Geldstrafe verboten, sich im Freien aufzuhalten, in schlimmen Jahren bis zu einer Woche. Ab April werden die Temperaturen dann erträglicher und verwandeln den Rest des Jahres zur luftigen, immerwährenden Sommerfrische.
Die Insel bewohnt ein europäisch-afrikanisch-asiatischer Mischlingsschlag, den es in dieser Zusammensetzung nicht noch einmal auf der Erde gibt. Moscheen wetteifern mit Kirchen, Hindutempeln und chinesischen Pagoden. Zugleich ist alles französisch-ordentlich in Bezirken organisiert, gehen die Kinder in dieselben Schulen, kann vor Ort in manchen Fällen sogar die Universität besucht werden. Die eigentümliche Zusammensetzung der Bevölkerung rührt aus der Geschichte La Réunions: ursprünglich unbewohnt, dann Hauptexporteur von Zucker und Vanille ins Mutterland – für die Plantagen wurden Arbeiter benötigt, zunächst als Sklaven aus Afrika eingeführt, nach deren Befreiung zusehends durch Tagelöhner aus Asien ersetzt. Im Vergleich zu anderen französischen Übersee-Departements gibt es auf La Réunion kaum Rassenprobleme, wird sich nach einem gemischten Pärchen niemand umdrehen.
Die Insel hat weit weniger Badeplätze als ihre Nachbarin Mauritius, zieht als Besucher mehr Bergwanderer an mit der einmaligen Hochwelt ihrer drei Einsturzkessel und – besonders – des aktiven Südvulkans (dessen Ringbruch, eine erkaltete Lavawüste um den Krater, weltweit ihresgleichen sucht). Es ist trotzdem möglich, einen Urlaub lang nicht aus dem Dunstkreis von Strand, Hotel und Diskothek zu kommen. Reisegäste sind dabei hauptsächlich Franzosen, an zweiter Stelle Deutsche, schließlich noch einige Resteuropäer. Da Englisch kaum gesprochen wird, trifft man entsprechend weniger Touristen, die auf diese Sprache angewiesen sind.
Vom Preis her ist der Urlaub auf La Réunion etwa so teuer wie an der Cote d’Azur, kostet demgemäss mehr als etwa auf der Nachbarinsel Mauritius. Dafür handelt man sich die verhältnismäßige Sicherheit „europäischer Verhältnisse“ im Indischen Ozean ein, riskiert kein schlechtes Gewissen angesichts lokaler Armut oder Hoffnungslosigkeit. Im Gegenteil ist die Infrastruktur überall mit EU-, also auch deutschen Mitteln entwickelt worden. In diesem Sinne darf man sich sogar wie zu Hause fühlen – östlich von Madagaskar – mit Supermarkt und Stadttheater auf La Réunion.