Der Roman, dessen Ende ich nach gut zwei Jahren endlich erreiche, entfaltet vor seinem Leser das Portrait dreier Charaktere in einer Vollständigkeit, die ich vorher so nie gelesen habe. Die Hauptfigur wird dabei abgerundet und versöhnt durch die Integration ihrer Schattenseiten, die nichts Erhabenes haben, sondern erbärmlich sind.
Wie das geht, beschreibe ich besser auf einem Umweg. Ich habe, neugierig gemacht von Joyce, parallel die Biografien seiner Lieblingsautoren R. Kipling und H. Ibsen gelesen. In beiden Fällen spielen vernichtete Briefe eine Rolle, besonders bei Ibsen, während von Joyce erstaunlich viele Briefe erhalten sind (nachzulesen in Ellmanns famosem Joyce-Portrait bei Suhrkamp). In den Briefen stehen viele unwürdige Dinge, die im Werk verarbeitet werden. In einem zentralen Kapitel vertritt Joyce sogar (durch einen seiner Helden und am Beispiel Shakespeares) die Ansicht, darin liege der Funke zu jedem echten Werk: in den Peinlichkeiten der Biografie seines Autors. Die Ulysses dann vollständig in dem notorischen “Circe”-Kapitel ausbreitet, das meines Wissens einmalig in der Weltliteratur ist. Wer es nie gelesen hat, gleicht jemandem, der auf Erden sein Leben beschließt, “ohne je den Mond und die Sterne gesehen zu haben”.
Das unterscheidet Joyce von trivialeren Schriftsteller*innen, die den beschämenden Inhalt ihrer “Briefe” verdrängen oder dem Widersacher in ihren Romanen zuschreiben. Das Beispiel Joyces hatte mich ermutigt, alte Briefe, von denen ich nichts wissen will, nochmal aus dem Versteck zu holen und – etwas zitternd – nachzulesen, auch ein paar ziemlich private Briefe meiner Vorfahren, die mich nicht stolz machen. Aber Joyce bleibt da trotz Zurückweisung des Katholizismus seiner Jugend insofern Jesuit, dass er in solcher Form der “Beichte” etwas Unausweichliches sieht, wenn man Seelenfrieden finden möchte – so wie der Held seines Ulysses am Ende des fragend-antwortenden “Ithaka”-Kapitels (ein anderer, geheimnisvoller und uneingeholter Höhepunkt der Weltliteratur). Insofern hat Ulysses durchaus etwas von einem spirituellen Text, zu dem man immer wieder zurückkehrt, um zur Ruhe zu kommen.