Man darf das Drama nicht mit Literatur verwechseln …

… meinte der junge James Joyce. Denn die Literatur befasse sich mit individuellen Einfällen in den Ausdrucksformen zeitgenössischer Konventionen, während das Drama das Leben in seinen unveränderlichen Gesetzen der menschlichen Natur behandle. Nur die Dramatiker würden das Zeitlose bewahren und es richtig behandeln. Wer nicht nur nachplappere, was ihm eingetrichtert wurde, erkenne sofort „die entsprechenden Qualitäten“ von Macbeth und [Ibsens] Baumeister Solness. Der Autor, so Joyce, gehe im Drama dem eigenen Ich voraus und stehe als Mittler in schrecklicher Wahrheit vor dem verhüllten Antlitz Gottes. Der Künstler habe nicht die Aufgabe, sein Werk politisch korrekt, moralisch, schön oder ideal zu gestalten, er müsse nur den Grundgesetzen treu bleiben, ob sie sich nun in Mythen oder realistischen Erfindungen ausdrückten. Und der 18-Jährige schließt seinen Vortrag mit einer bemerkenswerten Mischung aus Unmittelbarkeit und Ausschmückung:

Sollen wir das Leben – realistisches Leben – auf die Bühne bringen? Nein, sagt der Chor der Philister, denn das zieht nicht! Welche Mischung aus bornierten Ansichten und selbstgefälligem Kommerzialismus! Zwischen Parnassus und Stadtbank spalten sich die Krämerseelen. Sicher, das Leben ist heute oft nur ein trauriges Einerlei. Viele denken wie der Franzose, dass sie zu spät in eine zu alte Welt geboren wurden, wobei ihr hoffnungsloser und schlapper Un-Heroismus stets unerbittlich auf ein letztes Nichts, eine ungeheure Vergeblichkeit verweist, und bis dahin – auf das Tragen von Lasten. Epische Blutrunst ist durch umsichtige Polizeiüberwachung unmöglich gemacht, und die Ritterlichkeit ist von den Modeorakeln der Boulevards umgebracht worden. Es rasseln keine Rüstungen mehr, kein Nimbus ist um den Edelmut, kein Hüteschwenken, kein Bramarbasieren! Die Tradition des Romantischen wird nur noch in der Bohème hochgehalten. Dennoch glaube ich, dass selbst aus der öden Einförmigkeit der Existenz ein bestimmtes Maß an dramatischem Leben gezogen werden kann. Auch die durchschnittlichsten, auch die abgestorbensten unter den Lebenden können eine Rolle in einem großen Drama spielen. Es ist sündige Torheit, den guten alten Zeiten nachzujammern, unseren Hunger mit den kalten Steinen abzuspeisen, die sie uns bieten. Das Leben müssen wir akzeptieren, wie es vor unseren Augen steht, Männer und Frauen, wie wir ihnen in der wirklichen Welt begegnen, nicht wie wir sie uns in einem Feenland vorstellen. Die große menschliche Komödie, in der jeder mitspielt, bietet dem wahren Künstler ein unbegrenztes Betätigungsfeld, heute wie gestern und in längst vergangenen Zeiten. Die Formen der Dinge haben sich, wie die Kruste der Erde, verändert. Die Planken der [biblischen] Schiffe von Tharsis zerfallen oder werden von der gierigen See verschlungen; die Zeit ist in die Festungen der Mächtigen eingebrochen; die Gärten Armidas [vergangener Glanz und Zauber] sind baumlose Wildnis geworden. Aber die unvergänglichen Leidenschaften, die menschlichen Wahrheiten, die einst darin ihren Ausdruck fanden, sind wahrhaft unvergänglich, im heroischen Zyklus wie im wissenschaftlichen Zeitalter. Lohengrin, dessen Drama sich in einer Szenerie der Abgeschiedenheit, im Halblicht entfaltet, ist keine antwerpische Legende, sondern ein Weltdrama. [Ibsens] Gespenster, dessen Handlung sich in einem ganz gewöhnlichen Salon abspielt, ist von universaler Bedeutung, ein tief hängender Zweig am [Welt]Baume Yggdrasil, dessen Wurzeln in der Erde stecken, durch dessen oberes Blattwerk jedoch die Sterne des Himmels glänzen und sich regen. Mag sein, dass viele sich um solche Geschichten nicht kümmern oder glauben, ihre gewohnte Kost sei alles, was sie brauchten. Doch heute stehen wir auf den Bergen, schauen nach vorn und zurück, schmachten nach dem, was nicht mehr ist, und erkennen in der Ferne kaum die Flecken offenen Himmels; wenn spitze Zacken drohen und der Weg von Dornen überwuchert ist – was nützt es uns da, dass wir uns ein Dandystöckchen als Bergstock in die Hand gegeben haben oder dass wir uns mit duftiger Seide gegen den scharfen Hochlandwind schützen? Je eher wir unsere wahre Lage erkennen, desto besser; und desto eher werden wir aufbrechen und uns auf den Weg machen. Mittlerweile mag uns die Kunst, und vor allem das Drama, dazu verhelfen, dass wir unsere Ruheplätze mit mehr Verstand und mehr Vorausschau anlegen, auf dass ihre Steine kühn gemauert und die Fenster schön und hell seien. »… Mit Verlaub, Fräulein Hessel, was wollen Sie in unserem Verein?« fragte Rörlund. »Ich will auslüften, Herr Pastor«, antwortete Lona [in Ibsens Stützen der Gesellschaft].