Joan Copjec LIES MEIN BEGEHREN

Strukturen gehen nicht auf die Straße

Das erste Kapitel trägt den Titel „Strukturen gehen nicht auf die Straße“ und bezieht sich damit auf eine Protestparole von Studenten im Mai 1968, die den damals vorherrschenden Strukturalismus als eine akademische Disziplin kritisierte, die politisch unwirksam sei.

Copjec analysiert in dem Kapitel, wie einflussreiche Denker, vor allem Michel Foucault und Jacques Lacan, Strukturen und ihre Einflüsse auf das Individuum interpretieren.

Foucault wird im Hinblick auf seine Ansichten über Machtbeziehungen und soziale Kontrolle sowie seine Kritik an linguistischen und psychoanalytischen Analysemodellen vorgestellt. Copjec beschreibt seine Abkehr vom Strukturalismus hin zu einer Betonung von Krieg und Macht als grundlegendere Konstituenten der Gesellschaftsanalyse.

Parallel dazu wird Lacans psychoanalytische Theorie vorgestellt, insbesondere seine Ideen zu Sprache und Struktur: wie sie Wirklichkeit konstituieren. Wobei Lacan Strukturen als „Lebewesen“ auffasst, nicht als zufällige Regeln oder Bräuche.

Copjec kritisiert es als zu engen Sicht auf sozial wirkende Kräfte, wenn diese allein herrschaftlich oder systemisch, somit umgestaltbar aufgefasst werden. Reale, in der Regel verdeckte Dynamiken würden auf diese Weise ignoriert.

Real wird dabei von der Autorin im eigenwilligen Sinn von Jacques Lacan benutzt und meint unbewusst oder unaussprechlich – nicht weil einem die Worte dafür fehlten, sondern weil es grundsätzlich nicht zu beschreiben ist, jenseits von Sprache und Bewusstsein besteht, in deren Raum aber ausstrahlt und ihn irgendwie krümmt.

Worum es dabei geht, drückt am besten das deutsche Volksgedicht vom Bucklicht Männlein aus:

Will ich in mein Gärtlein gehn,
will mein Zwiebeln gießen;
steht ein bucklicht Männlein da,
fängt als an zu niesen.

Will ich in mein Küchel gehn,
will mein Süpplein kochen;
steht ein bucklicht Männlein da,
hat mein Töpflein brochen.

Will ich in mein Stüblein gehn,
will mein Müslein essen;
steht ein bucklicht Männlein da,
hat´s schon halb gegessen.

Will ich auf mein Boden gehn,
will mein Hölzlein holen;
steht ein bucklicht Männlein da,
hat mir´s halb gestohlen.

Will ich in mein Keller gehn,
will mein Weinlein zapfen;
steht ein bucklicht Männlein da,
tut mirn Krug wegschnappen.

Setz ich mich ans Rädlein hin,
will mein Fädlein drehen;
steht ein bucklicht Männlein da,
läßt mirs Rad nicht gehen.

Geh ich in mein Kämmerlein,
will mein Bettlein machen;
steht ein bucklicht Männlein da,
fängt als an zu lachen.

Wenn ich an mein Bänklein knie,
will ein bißlein beten;
steht ein bucklicht Männlein da,
fängt als an zu reden:

Liebes Kindlein ach ich bitt,
bet fürs bucklicht Männlein mit.

Obwohl das Reale bei Lacan nicht direkt ausgedrückt werden kann, übt es dennoch seinen Einfluss auf das bewusste Sein aus, manifestiert sich z.B. in Symptomen, Träumen und anderen psychoanalytischen Phänomenen, die auf die Grenze der mentalen Ordnung hinweisen und den Versuch darstellen, etwas Unvorstellbares umzusetzen.

Copjec argumentiert somit, dass bestimmte grundlegende Aspekte der menschlichen Existenz in einer Weise real sind, die sich der Erkenntnis und damit dem politischen Willen prinzipiell entzieht. Im Gegensatz zum traditionellen Ansatz Foucaults, der Strukturen als beobachtbare und analysierbare Systeme innerhalb der Gesellschaft begreift, versteht Copjec sie mit Lacan als primitive Kräfte, die „realer als die Wirklichkeit“ sind, weil sie das subjektive Erleben und Handeln dank einer tieferen, unbewussten Ebene prägen.

Copjec fordert uns auf, hinter die Oberfläche der sprachlich und symbolisch vermittelten Wirklichkeit zu blicken und die tiefer liegenden Kräfte zu gewahren, die unser Erleben und Verhalten prägen, sich aber unserem direkten Verstehen und Ausdruck entziehen. Ihre Methode hat zweifellos, wie die der Psychoanalyse überhaupt, etwas Schamanisches.

Das orthopsychische Subjekt: Filmtheorie und Lacanrezeption

lautet der Titel des zweiten Kapitels von Joan Copjecs „Lies mein Begehren. Lacan gegen die Historisten“. Im vorigen hatte sie Foucaults Blick auf Macht und Struktur als zu oberflächlich in Frage gestellt und dafür plädiert, über die sichtbaren sozialen Strukturen hinauszugehen, um die unfassbaren Kräfte zu erahnen, die die menschliche Erfahrung formen und sich jeder einfachen Analyse oder Manipulation entziehen. Diese unbewussten Dimensionen, die uns ihrer Meinung nach zu Subjekten machen, verfolgt sie in diesem Kapitel weiter.

„Orthopsychisch“ leitet sich von den griechischen Wörtern „orthos“ für „richtig“ oder „gerade“ und „psyche“ für „Seele“ oder „Geist“ ab – das „orthopsychische Subjekt“ ist der Mensch, dessen Bewusstsein sich durch Anpassung und Selbstüberwachung entwickelt. Am deutlichsten wird das, finde ich, wenn man kleine Kinder beobachtet, die gerade laufen gelernt haben und wie wild losrennen, sich dann aber immer wieder nach den Erwachsenen umdrehen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Das zieht sich, weniger auffällig, durch das ganze menschliche Leben, bis zu dem Augenblick, in dem ich mich mit diesem Text beim Leser lieb Kind machen möchte.

In diesem 2. Kapitel ihres Buches bezieht sich Copjec auf die Ansichten verschiedener Denker, insbesondere auf den französischen Philosophen Gaston Bachelard, der die Auffassung vertritt, dass durch den ständigen Anpassungsdruck an gesellschaftliche Normen ein geheimes Innenleben entsteht, welches uns zu Subjekten macht. Im Gegensatz dazu argumentiert Michel Foucault, dass unsere Identität und persönliche Entwicklung restlos aus der Anpassung an bestehende Machtstrukturen und deren Wiederholung entstehen.

Copjec hält es dagegen mit dem von Hegel inspirierten Psychoanalytiker Jacques Lacan, der glaubt, dass wir uns fortwährend einen Reim auf die Welt machen und zu Subjekten werden, indem wir damit nie an ein Ende kommen, da es immer Aspekte gibt, die außerhalb unserer Wahrnehmung oder unseres Verständnisses liegen. Das wecke zugleich ein unstillbares Verlangen.

Lacan postuliert, dass das ‚orthopsychische Subjekt‘ niemals vollständig zu sich selbst gelangen kann, da stets ein ‚Blick‘ existiert, der außerhalb seiner eigenen sichtbaren und begreifbaren Welt lauere. Dieser Blick bewirkt, dass das Subjekt kontinuierlich seine eigene Position und Identität in der Welt hinterfragt.

Copjec kritisiert, dass Jacques Lacans Konzept des ‚Blicks‘ (gaze) in der angelsächsischen Filmtheorie, insbesondere von ihrer Doktormutter Laura Mulvey, missverstanden worden sei. Im Gegensatz zu Foucault, dessen Verständnis des ‚Blicks‘ oft als Einnahme einer Machtposition interpretiert wird, die die Welt nach Belieben betrachtet und beeinflusst, steht Lacans ‚Blick‘ für etwas völlig anderes.

Für Lacan ist der ‚Blick‘ vielmehr eine Störung, die aus dem Nichts auftaucht und etablierte Sichtweisen erschüttert, wodurch diese aufgebrochen oder befreit werden können. Copjec zufolge scheitert die konventionelle Filmtheorie daran, die radikaleren Aspekte von Lacans Theorie des Blicks zu erfassen.

Lacan, der sich auf Hegel beruft, betrachtet das Subjekt nicht als einen fixen Punkt, sondern als eine dynamische Entität, die ständig durch das geformt wird, was sie nicht sehen kann – durch das Fehlen von etwas.

In Lacans Theorie wird das Subjekt durch das konstituiert, was es nicht sieht und erkennen kann – das Reale, das außerhalb der vollständigen Erfassung durch Sprache und Verstehen liegt. Dieser Mangel, diese Abwesenheit von vollständiger Erkennbarkeit ist es, was das Subjekt antreibt und sein Begehren ausmacht. Es ist eine ständige Suche nach dem, was jenseits der verstandenen Realität liegt, was das Subjekt letztlich nie erreichen kann.

Lacan kritisiert damit die Vorstellung eines dominanten, perspektivisch zentrierten Subjekts, wie sie in der kritischen Filmtheorie häufig vertreten wird, und schlägt stattdessen ein Modell vor, in dem das Subjekt durch eine grundlegende Unmöglichkeit und den ständigen Verdacht der Verkennung konstituiert ist. Das Subjekt ist nicht nur eine Schöpfung des Gesetzes oder der Sprache, sondern auch und vor allem einer ständigen Dialektik des Mangels und der Unvollständigkeit unterworfen, die es zu einem begehrenden und dynamischen Wesen macht.

Was Lacan mit „Blick“ meint, ist daher nichts Dominierendes, sondern ein Riss in der Wahrnehmung, etwas Unerwartetes, Überraschendes, z.B. die plötzliche Wendung in einer Handlung (der twist). Im Bild selbst könnte dies durch einen Verfremdungseffekt kommuniziert werden, der den Betrachter aus der Wahrnehmung herauszieht,diese unterbricht.

Zerschneiden

In den ersten beiden Kapiteln von „Lies mein Begehren“ hat Joan Copjec das Subjekt bestimmt. Dabei stützt sie sich vor allem auf Jacques Lacan, dessen Vormarsch wiederum durch Hegel, also vom deutschen Idealismus, beeinflusst ist. Der zentrale Satz Hegels, der seine Philosophie zusammenfasst, steht in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes und lautet: „Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“

Das Subjekt geht über das Sichtbare hinaus und teilt sich in einer Unzufriedenheit des Existierenden mit, das immer noch anders sein will, als es geworden ist. Der darin wirksame Drang des „Realen“, wie Lacan es nennt, kann alles Bestehende oder Substantielle immer wieder aufmischen und neu machen. Das werde von Philosophen, die nur die Macht der Verhältnisse verstehen, wie z. B. Michel Foucault, aber auch von Judith Butler, verkannt, findet die Autorin Joan Copjec.

„Zerschneiden“ heißt nun das dritte Kapitel ihres Buches, in dem sie sich weiter mit dem Wesen und Verkennen des „Realen“ auseinandersetzt. Lacan versteht, wie gesagt, unter dem „Realen“ nichts Substantielles, sondern etwas ebenso Ungreifbares wie Durchgreifendes.

In psychoanalytischen Begriffen, erklärt uns die Autorin zunächst, sei das Reale Ausdruck des Todestriebes, jenseits des Lustprinzips, der sich im Flackern von Stimmigkeiten als ein regulierender Urton mitteilt. Laut Freud sei zwar das Lustprinzip das Ziel aller psychischen Mechanismen und unsere Seele entsprechend in der Lage, sich innerlich frei von äußeren Realitäten zu harmonisieren. Diese Fähigkeit, eine „Unabhängigkeit vom Schicksal“ zu erreichen, führe dazu, dass unser Bewusstsein die rohe Wirklichkeit endlos aufschieben und ersetzen könne. Entsprechend habe Freud, so Copjec, die Kultur nicht als etwas gesehen, das unsere Fantasien überprüft, sondern sie vielmehr umsetzt, indem sie uns märchenhafte Kräfte verleiht.

Die moderne Auffassung (psychologische Ertüchtigung) der Seele, so Copjec, schätze und fördere diese „Vermittlerrolle“ kultureller Fantasien als Inbegriff menschlicher Subjektivität und persönlicher Freiheit. Die Autorin aber widersetzt sich dem Verständnis, dass wir dadurch zu uns kämen; denn es bleibe immer etwas übrig, das sich nicht zufriedenstellen lässt und unseren Stolz verletzt.

Es folgt ein Einschub zur Theorie der Komödie. Copjec setzt dafür die imaginäre Auffassung des Seelischen ins Verhältnis zu Freuds Deutung der Philosophie des von ihm geschätzten Henri Bergson, besonders über das Lachen. Lachen, so Bergson, gilt etwas „Hackendem“, das die Geschmeidigkeit des Reims, den wir uns auf die Welt machen, unterbricht und verstockt. Bergson denkt, dass wir durch Lachen die Unelastizität in Charakter, Denken und Handeln zurechtweisen, was uns wieder auf die Höhe des sozialen Lebens bringt. Lachen wäre, so gesehen, etwas Stolzes.

Dagegen steht die These, dass im Lachen das Hackende selbst genossen wird bzw. die durch sein Zerstörungswerk entbundene Energie. Freud sieht darin eine Initiative des Todestriebes, der auch den alles mitreißenden Elan ausmache, der Bergsons Philosophie generell bestimmt. Die Wiederholung aber ist für Freud nicht lustvoll-entfaltend oder rhythmisch, sondern primitiv-hackend, einen Grundton oder Urschlag anstimmend.

Während Bergson im Kielwasser Darwins das Sein sich immer weiter entfalten sieht, befindet es sich für Freud fundamental auf einem Rückzug, was sich im alles unterbrechenden Zwang zur Wiederholung kundtut. Das von ihr betroffene Ereignis wird aus dem Narrativ, in welche es eindrucksvoll gebettet ist, gerissen und so befähigt, mit weiteren, inzwischen eingetretenen Ereignissen in anderem Licht zu erscheinen. Die Gegenwart wirkt solcherart – unterbrechend – auf die Vergangenheit zurück, hat diese zur Folge, statt vor ihr verursacht worden zu sein.

Lacan, so Copjec weiter, greife die Idee des Todestriebes von Freud auf, setze sich dazu aber nicht mit Bergson, sondern mit Aristoteles auseinander. Beide Philosophen betonen den Vorrang des Wandels gegenüber dem Bestehenden. Der Wandel kann nach Aristoteles spontan erfolgen, wie z. B. bei der Entpuppung eines Schmetterlings, oder er verdankt sich etwas Zufälligem wie einem Treffen oder Zusammenstoß, die dann den weiteren Gang der Dinge bestimmen. Nach Lacan ist dies oft der Fall bei Verläufen, die eine seelische Richtung einschlagen. Die darin wirkende Kausalität hat nichts Vorhersehbares, denn sie geht auf Zufälle zurück.

Was in uns vorgeht, Denken und Wollen, erhält seine Richtung durch etwas Einschneidendes, Erschütterndes, das uns überrascht und damit zum Subjekt macht. Der Hysteriker stilisiert Machtlosigkeit durch Stilllegung (Lähmung) von Körperteilen, die für das steht, was uns ausmacht, unser Manko, während der – nach Lacan sprachlich verfasste – Rest sich immerzu ändert. Keine Sprache kann die Realität vollständig darstellen, was bedeutet, dass das Subjekt immer etwas vermisst und begehren wird.

Das Begehren des Subjekts entsteht durch die Unvollständigkeit der Sprache. Das Subjekt strebt daher nach etwas, das außerhalb der Sprache liegt, nicht vollständig benannt werden kann. Lacan findet, dass das Subjekt als Überschussprodukt der Sprache entsteht, also durch das, was die Sprache nicht erreichen kann. Sie schafft es nicht, die Realität vollständig abzubilden. Dies führt dazu, dass das Subjekt ständig hinterfragt, was ihm die Sprache bietet. Sein Begehren ist dabei nicht auf ein bestimmtes Objekt gerichtet, sondern auf das Fehlen oder das Andere, das durch die Sprache nicht erfasst wird.

Während ein Denker wie Bergson oder sein Gefolgsmann Deleuze sich im Fluss ewigen Hervorbringens vollendet wähnt, sieht Lacan darin den vergeblichen Versuch, etwas ebenso Einschneidendes wie Unerreichbares einzuholen. Infolgedessen ist das Subjekt auch abgegrenzt, also nicht etwa flüchtig, wie Derrida meint, sondern eindeutig bestimmbar: als Ort der Formulierung des vergeblichen Wunsches nach dem Jenseits.

Dieses Subjekt wird verursacht durch Grammatik, manifestiert sich nicht über den Leib, sondern als sprachliches Gebilde: Wir bestehen in dem Gerede über uns und verändern uns mit ihm – aber nie in dem Wunsch, eine Schwelle zu überwinden, welche dieselbe unveränderliche Weiterung jeglicher Identität ist.

Das herrschaftlich-elegante Über-Ich

… heißt das vierte Kapitel in Joan Copjecs „Lies mein Begehren – Lacan gegen die Historisten“. Die ersten drei Kapitel boten eine Analyse des Menschen als „Subjekt“: seine Beziehung zur Wirklichkeit. Sie zeigten, dass das Subjekt nicht nur durch sichtbare Strukturen und Machtverhältnisse, sondern vor allem durch unbewusste Kräfte und einen Mangel bestimmt wird, durch etwas hintenrum Wirksames, das sich weder beabsichtigen oder manipulieren lässt.

Das vierte Kapitel widmet sich dem Leben und Werk des französischen Psychiaters Gaëtan Gatian de Clérambault, insbesondere seiner Leidenschaft für exotische Gewänder. Clérambaults mehr als 40.000 gespenstische Fotografien marokkanisch eingekleideter Figuren werden im Kontext von Kolonialismus, Orientalismus und psychoanalytischen Theorien als perverse Methode untersucht, etwas Unmögliches zu genießen. Copjec entwickelt an diesem Beispiel das Dilemma des Utilitarismus als Philosophie, die den modernen Alltag beherrscht.

Das Kapitel ist fast selbst so vetrixt wie die Perversion, die es kritisiert, und bereitet einem entsprechendes Vergnügen. Theoretisch geht es darum, dass das utilitaristische Gebot der Vernunft, der Nächstenliebe und der Nützlichkeit niemals die Freuden bereiten kann, die es durch seine Befolgung verspricht. Bei der Vorstellung vom gelingenden Glück besteht eher der Verdacht, dass mit dem steigenden Angebot gleichzeitig die Enttäuschung wächst – eine Katerstimmung angesichts des Überflusses scheint garantiert.

Das gilt selbst für das Erreichen geistiger Ziele. Viele Autoren lesen ihre früheren Werke nicht gern. Das Gleiche gilt oft für Künstler, die ihren Stil ständig neu erfinden müssen. Es scheint, dass nicht der Besitz, sondern bestenfalls der Erwerb glücklich macht. Es gibt eine Art Abneigung gegen den Besitz der eigenen geistigen Produktionen, die in den Schaffensprozess selbst einfließt, was oft zu einer trockenen oder gleichgültigen Haltung führt. Diese Beobachtung bestätigt sich besonders im Alter, wenn Schöpfer von ihren eigenen Werken gelangweilt sind. (Dies könnte sogar eine Erklärung für den Begriff der romantischen Ironie sein: Der Geist schwebt über seinen eigenen Werken und betrachtet sie mit einem gewissen Abstand, wie ein Künstler, der sein Werk lächelnd zurücklässt.)

Die Suche nach Glück in Form von Konsumgütern erzeugt oft einen inneren Widerstand, der die eigene Freiheit verteidigt. Erlebnisse können zufällig und unbeständig sein, vor allem, wenn man sie methodisch sucht, wie ein Süchtiger. Geistige Arbeit befriedigt nur wenige Menschen auf Dauer, da sie oft die Kehrseite der Ermüdung oder Austrocknung zeigt.

Copjec erklärt diese Schwierigkeit mit einer Verkennung der wahren Funktion des Über-Ichs, das seine Energie nicht aus dem Wunsch bezieht, etwas Gutes zu sollen, sondern etwas Böses abzuwehren. Nicht die Nächstenliebe steht nach Freud an erster Stelle, sondern der Nächstenhass, der sich im Brudermord am Anfang der Menschheitsgeschichte manifestiert. In seiner Abwehr entsteht das Über-Ich und verbannt damit einen Ur-Wunsch, der als unbewusstes Kraftzentrum das Subjekt initiiert. Was es eigentlich will, darf nie wahr werden und taucht bestenfalls in verzerrter Form auf, z.B. in verrückten „Hobbys“, die Vernunft und Nützlichkeit eine lange Nase drehen. Wie die „wissenschaftlichen“ Vorträge von Clérambault, die sich offiziell mit der „Faltung und Lage“ orientalischer Gewänder befassten, in Wirklichkeit aber etwas Unaussprechliches verdingfestigen wollten, das diese einkleiden.

Vampire, Stillen und Angst

Im fünften Kapitel deutet Joan Copjecs „Lies mein Begehren“ an, dass die menschliche Seele früher nicht als eigenständig verstanden wurde. Damals glaubte man sie mit dem Jenseits verbunden. Heute begegnet uns diese Vorstellung vor allem in Horrorfilmen, dem spirituellsten aller Genres.

Unser modernes Bewusstsein als „Subjekte“ entstand durch die Ausklammerung unerklärter oder unerklärlicher Bereiche des Seins. Diese Bereiche, wie Freuds „Unbewusstes“ oder Lacans „Reales“, beeinflussen weiterhin unser Handeln, und wenn wir ihnen plötzlich begegnen, empfinden wir Angst.

Das Horrorgenre der Moderne, insbesondere die Vampirgeschichten, veranschaulichen dieses Konzept. Vampire sehnen sich nach etwas, das ihnen die rationale Welt verweigert. Copjecs nennt es nach Lacan das „extime“ Objekt – etwas, das außerhalb von uns liegt, aber gleichzeitig innerlich mit uns verbunden bleibt. Wie ein Teddy. Die Beziehung zum Teddybär geben wir als Erwachsene auf, aber sie behält eine einzigartige Form der Befriedigung, die durch nichts Vernünftiges ersetzt werden kann.

Horrorgestalten wie Vampire repräsentieren die Sehnsucht nach etwas Verdrängtem oder Verlorenem, das tief in uns steckt und gleichzeitig außerhalb unserer Reichweite liegt. Die Begegnung mit solchen Dingen, die unseren alltäglichen Horizont überschreiten, löst Angst aus. Das ist es, was Horrorfilme so faszinierend macht.

Der unvermögende* Andere: Hysterie und Demokratie in Amerika

In ihrem Buch „Lies mein Begehren“ führt Joan Copjec den Leser in die psychoanalytische Vorstellung ein, dass unser Dasein von unbewussten, nicht fassbaren Kräften geprägt ist, die sich nach der Überwindung der Religion beispielsweise im Horrorgenre manifestieren, das die Begegnung mit etwas thematisiert, das außerhalb von uns liegt und gleichzeitig tief in uns verwurzelt ist.

Im sechsten Kapital (Der unfähige* Andere: Hysterie und Demokratie in Amerika) zeigt uns die Autorin, wie sich die unverstandene Rolle des Unbewussten vor allem in den USA auch politisch auswirkt, indem das Volk Präsidenten vorzieht, die intellektuelle und moralische Fehler begehen. Denn nur solche Figuren können geliebt werden.

Die (psychoanalytische) Idee dahinter ist, dass die Liebe unseren Wunsch ausdrückt, über das hinauszugehen, was wir können und sollen, über unseren vernünftigen Alltag, der dafür „gecancelt“ werden muss. Es sind also gerade die Fehler, die ein Mensch begeht, die ihn zum möglichen Objekt unserer Liebe machen.

Ein Gedankenexperiment soll das verklaren: Wenn uns etwas zuteilwird von jemand, den wir begehren, nimmt uns nicht ihr Geschenk für die Person ein, sondern wir wertschätzen es deswegen, weil es von ihr kommt – und zwar umso mehr, je linkischer es wirkt. Ein gebasteltes Schmuckstück schlägt jeden Diamantring.

So werden auch Politiker nach Copjec nicht wegen ihrer Kompetenz, sondern wegen ihrer Fragwürdigkeit geliebt, mit der sie die Regeln des immer suboptimalen Alltags durchstreichen und somit – durch Respektlosigkeit – seine Vollendung anbahnen. Genau das erwarten wir von der Liebe.

Demokratien (nach Copjec vor allem die USA) bevorzugen auch deshalb unkorrekte Politiker, weil sie das Bild des Bürgers besser repräsentieren, der sich, um wählen zu dürfen, durch nichts qualifizieren muss als durch seine Meinung, die das Recht hat, unkritisiert zu bleiben. Dies wird vor allem dadurch bewiesen, dass sie dem Hauptstrom zuwider läuft oder (sogar absichtlich) falsch ist.

Dementsprechend versuchen auch die amerikanischen Gesetze, so neutral wie möglich zu bleiben und sich möglichst nicht in das Leben der Menschen einzumischen. Copjec zitiert im Gegensatz dazu Jacques Lacan, der der Meinung war, dass wahre Gerechtigkeit nicht einfach verteilt, sondern aktiv geschaffen werden müsse. Die Idee, dass das Gesetz nur passiv sein solle, führe zu einer Art Hysterie, weil sie die Menschen in ständiger Unsicherheit und Überreaktion halte.

Die Demokratie bringt neurotische Unzufriedenheit und Konflikte mit sich, weil sie keine absolute Gewissheit bietet und die Menschen in ständiger Spannung zwischen ihren individuellen Bedürfnissen und den sozialen Strukturen hält. Diese Niezufriedenheit und der Kampf um die Definition des Subjekts und seiner Beziehungen zu anderen sind jedoch notwendig, um die Demokratie zu bewahren und zu verhindern, dass Macht in totalitären Formen gerinnt gegenüber der ständigen Versuchung, Kontrolle aufzugeben und die Sau rauszulassen. Diese Gefahr lässt sich psychoanalytisch mit Freuds Theorie von „Totem und Tabu“ erklären. Er beschreibt, wie die Söhne den Urvater ermorden und eine Herrschaft der Brüder errichten. Diese demokratische Brüdergesellschaft wacht darüber, dass sich niemand ungestraft mehr herausnimmt als die anderen. Demokratische Gesellschaften versuchen ständig, Maßlosigkeit zu verhindern. Diese Aufsichtsaktionen eskalieren dann, um somit – indirekt – den Exzess zu verwirklichen, den sie zu kontrollieren versuchen. Was bedeutet, dass jede Form gesellschaftlicher Macht instabil ist und zusammenbrechen kann. „Freiheit“ bleibt immer möglich, auch wenn sie sich in der Tendenz zum Faschismus manifestiert. Faschismus bedeutet, die Kontrolle der Gesetze der Brüderlichkeit zu brechen und sich der Maßlosigkeit hinzugeben.

Verschlossener Raum/Einsamer Raum: Die Privatsphäre im Film noir

In ihrem Buch „Lies mein Begehren: Lacan gegen die Historisten“ arbeitet Joan Copjec am Leitfaden der Psychoanalyse heraus, wie unsere Existenz und Subjektivität von Kräften geprägt wird, die sich der rationalen Erkenntnis und dem politischen Willen entziehen sowie in Symptomen, Träumen oder kulturellen Phänomenen manifestieren wie z. B. den Spielformen des Kriminalfilms.

Diese Tiefenschicht der Realität, der sich Sprache und Verstand verdanken, ohne von ihnen erfasst werden zu können, erzeugt ein ständiges Verlangen und Unzufriedenheit in jedem von uns. Copjec kritisiert sowohl Foucaults Machtanalysen als auch das produktive Nützlichkeitsdenken, weil sie diese unsichtbaren, jedoch mächtigen Kräfte vernachlässigen. Wahre Gerechtigkeit und Freiheit gelingen erst durch Anerkennung und Auseinandersetzung mit diesen unbewussten Dimensionen, die sich jeder simplen Analyse oder Manipulation entziehen.

Copjec fordert ihre Leser dazu auf, über die sichtbaren Strukturen und Machtverhältnisse hinauszugehen und die tiefer liegende Kräfte zu bedenken, die unser Erleben und Handeln verursachen. Diese Kräfte sind nach ihr realer als die alltägliche Wirklichkeit und bestimmen wesentlich unsere Identität und unser Begehren.

Im vorletzten Kapitel, „Verschlossener Raum/Einsamer Raum: Die Privatsphäre im Film noir“, veranschaulicht Copjec ihre Metaphysik und deren Weiterung an den Krimi-Genres des Detektiven sowie des Film Noir, der die Auflösung des Privatlebens in der Postmoderne zum Ausdruck bringt.

Die Figur des Detektivs geht nach Copjecs Befund aus den versicherungsstatistischen Methoden des 19. Jahrhunderts hervor. Der Optimierungsprozess von Logik, Statistik und bürokratischer Überwachung leitet die Aufklärung jenes Verbrechens, das sie verletzt. Während die Polizei dabei konventionell bleibt, sticht der Detektiv – nicht unähnlich dem Täter, der das Gewöhnliche hinter sich ließ – dadurch hervor, dass er über die Standards hinaus ist. In Dashiel Hammetts Kurzgeschichte „Bodies Piled Up“ etwa realisiert er, dass die verbrecherische Person eigentlich in das Hotelzimmer 609 gehen wollte, weil diese Nummer sich in dem Verzeichnis auf der Rezeption auch kopfüber 609 liest, vom Mörder jedoch überinterpretiert und daher fälschlich verdreht wurde usf.

Die persönliche Lage und Herausforderung des Detektivs wird nach Copjec veranschaulicht durch den „geschlossenen Raum“, in dem etwas Unfassliches vorliegt, ohne dass es einen offensichtlichen Weg für einen Täter hinein oder hinaus zu geben scheint. Den Detektiv bestimmt das Begehren, neue Bedeutungen aus solcher Unmöglichkeit zu schöpfen. Copjec deklariert ihn deswegen zur Frau. Denn Weiblichkeit besteht nach dem von ihr propagierten psychoanalytischen Mythos im Bestreben, pausenlos Signifikanz zu schaffen, ohne je an ein Ende zu kommen.

(Dass der „Detektiv eine Frau“ ist, beweist Copjec damit, dass keine der bekannten Figuren des Genres eine Gefährtin hat. Copjec zitiert dazu eine Szene aus der Serie Columbo, in welcher der Inspektor einen Verdächtigen, der für den Kongress kandidiert, um ein Autogramm für seine Ehefrau bittet. Jeder, der die Serie kennt, weiß, dass Columbos Ehefrau nie wirklich in der Handlung auftaucht. Sie wird oft erwähnt, aber man sieht sie nie. Dadurch wird verhindert, dass Columbo in irgendeine romantische Beziehung verwickelt wird, was Teil seines Charakters ist. Der Mann ist bereit, das Autogramm zu geben. Er zieht ein Blatt Papier aus der Schublade, setzt an zu schreiben und fragt Columbo: „Wie ist der Name Ihrer Frau?“ Columbo antwortet mit „Mrs. Columbo“ – was auch die einzige Antwort ist, die er geben kann, basierend auf seinem typischen Gesichtsausdruck.)

Während die persönlichen Einfälle und Sinnsuchen eines Detektivs den Rahmen der öffentlichen Ordnung erweitern und konsolidieren, ist der Hauptfigur des Film Noir nach Auflösung. Sie interessiert sich nicht für die Gesellschaft und ihre Regeln, sondern will diese ersetzen durch ein Paradigma der krassen Selbstentfaltung, das den ungehemmten Genuss zur Bürgerpflicht macht. Persönliches Vergnügen wird auf diese Weise „verstaatlicht“, findet Copjec, wodurch die Gesellschaft in Interessengrüppchen zerfällt, die sich in puncto Genuss zu übertrumpfen versuchen.

Copjec macht das dann in einem längeren, auf den ersten Blick verpeilten, aber schließlich faszinierenden Absatz weiter fest am Einsatz des Voice Over im Film Noir, welches das Geschehen weniger kommentiert, als ein Klang aus dem Jenseits ist. In „Double Indemnity“ verdeutliche die Erzählstimme von Walter Neff seine innere Isolation und Trennung von jeglicher Gemeinschaft. Sie verrate eine Diskrepanz zwischen dem Gesagten und dem Gezeigten, eine innere Spannung und Sehnsucht, die über die reine Informationsvermittlung hinausgeht. Die Stimme im Film Noir kommt nach Copjec von nirgendwo, drückt die Trennung des Sprechers von Leben und Gemeinschaft aus, seine inneren Abgründe und die Freude dabei am Erzählen selbst.

Anders als in klassischen Detektivgeschichten, in denen die Verbrecher noch einen Bezug zur Gesellschaft und zum Gesetz haben, sind die Helden des Film Noir völlig auf sich allein gestellt. Sie können sich auf nichts verlassen und haben auch keinen privaten Ort, an dem sie sich verstecken könnten. Die typischen Schauplätze des Film Noir – verlassene Bürogebäude, leere Hotels, unheimliche Korridore – sind nicht nur physisch, sondern auch emotional leer. Diese Räume bieten keine Zuflucht und keine Geheimnisse mehr, sie sind erschöpft und uninteressant geworden. In solcher Umgebung ist die Privatsphäre der Helden aufgehoben. Sie können ihre innersten Gedanken und Gefühle nicht verbergen, ihre Masken und Verkleidungen sind wirkungslos. Diese Entblößung führt zu einer tiefen Verunsicherung und Paranoia, aber nicht in dem Sinne, dass sie verfolgt oder entlarvt würden. Vielmehr trumpft ihre Innenwelten auf und tut sich hervor in vollkommener Leere und Bedeutungslosigkeit.

Trotzdem klammern sie sich an das Nichts, das ihnen bleibt, und finden darin paradoxerweise einen Genuss. Die „femme fatale“ ist dabei mehr ein Geist als ein Charakter, hilft dem Helden, indem sie ihn durch ihre Forderungen von den gesellschaftlichen Normen und Regeln befreit, anstatt ihm Sicherheit und Stabilität zu verheißen. Sie übernimmt seine flachen Begierden und Sehnsüchte, die er sich selbst nicht eingestehen kann. Durch die Beziehung zu ihr erlaubt sie, extremste Wünsche auszuleben.

Das Geschlecht und die Euthanasie der Vernunft

In Joan Copjecs „Lies mein Begehren: Lacan gegen die Historisten“ untersucht die Autorin, wie tiefere, unbewusste Kräfte und Strukturen unser Erleben und Handeln prägen. Dabei kritisiert sie die Beschränkung der traditionellen Ideologiekritik auf oberflächliche, sichtbare Machtverhältnisse und beleuchtet die unbewussten, so unaussprechlichen wie produktiven Dimensionen der menschlichen Existenz und ihre Auswirkungen auf Subjektivität, Begehren und gesellschaftliche Dynamiken.

Im letzten Kapitel, „Das Geschlecht und die Euthanasie der Vernunft“, weist Copjec darauf hin, dass wir bei dem Versuch, den Begriff Geschlecht zu verstehen, oft in einen Konflikt geraten, der unsere Vernunft herausfordert, ähnlich wie es Kant erging, als er über die Grenzen der Vernunft nachdachte.

Wenn wir über Geschlecht sprechen, neigen wir dazu, es entweder als etwas Festes und Unveränderliches (wie eine biologische Tatsache) oder als etwas vollständig Konstruiertes und Veränderbares (wie eine kulturelle Idee) zu betrachten. Judith Butler hat die zweite Sichtweise unterstützt, indem sie sagte, dass Geschlecht etwas ist, das wir durch unser Verhalten und unsere kulturellen Praktiken erschaffen und verändern können.

Copjec findet Butlers Ansatz interessant, aber auch problematisch. Sie glaubt, dass Geschlecht nicht nur durch Kultur und Diskurse (das, was wir sagen und tun) definiert wird, sondern auch durch etwas Tieferes und Unbewusstes, das wir nicht vollständig verstehen oder verändern können, weil es jenseits unserer Sprache und unseres Verständnisses liegt und sie erst ermöglicht.

Copjec argumentiert, dass diese tiefere, unbewusste Ebene von Geschlecht nicht einfach durch kulturelle Praktiken oder diskursive Konstruktionen beeinflusst werden kann. Sie sieht Geschlecht als eine Art Widerspruch, der unseren Verstand und unsere kulturellen Konstruktionen herausfordert und ihnen oft widerspricht.

Wenn wir über das Geschlecht nachdenken, stoßen wir nach Copjec immer auf etwas, das sich unserer vollständigen Kontrolle und unserem Verständnis entzieht. Das bedeutet, dass Geschlecht nicht einfach eine soziale (sprachliche) Konstruktion ist, die wir beliebig verändern können, sondern etwas Tieferes, das in unserem Unbewussten verwurzelt ist und uns in gewisser Weise immer beeinflussen wird.

Copjecs Kritik an Butler ist also, dass Butlers Gender-Ansatz zwar wichtige Einsichten bietet, aber letztlich zu einer Art „Skeptizismus“ führt, der die tiefere, unbewusste Dimension des Geschlechts übersieht. Copjec will, dass wir diese tiefere Dimension anerkennen und verstehen, dass Geschlecht mehr ist als nur eine kulturelle Konstruktion – es ist auch eine grundlegende, unbewusste Wirksamkeit, die sich nicht vollständig erfassen oder kontrollieren lässt.

Wir nehmen gerne an, dass es eine geistige Befindlichkeit gibt, die für alle Menschen gleich ist. Diese Subjektivität ist geschlechtslos, weil sie keine besonderen Eigenschaften hat. Die Psychoanalyse findet dagegen, dass alle Subjekte immer nur ein Geschlecht haben – männlich oder weiblich – und dass dies unser Denken und Verhalten betrifft.

Copjec erklärt, dass Geschlecht nicht nur eine äußere Eigenschaft ist, sondern tief in unserem Bewußtsein stört. Dort gibt es nur zwei Arten, in denen unser Verstand an seine Grenzen stößt: die „mathematische“ und die „dynamische“. Copjec entleiht diese „Antinomien“ der Philosophie Immanuel Kants und macht an ihnen die unterschiedlichen Geschlechter fest.

Es ist so, als würden wir versuchen, im Leben zurechtzukommen, aber es gibt immer eine Lücke in unserem Wissen. Die Form dieser Lücke, von denen es nur zwei gibt, bestimmt das Geschlecht als spezifische Art und Weise, wie wir die Welt verzerren.

Copjec bestimmt dann das weibliche Geschlecht als Ausdruck von Kants mathematischer, das männliche als Ausdruck der dynamischen Antinomie.

Das scheint eine Lieblingsidee der Autorin zu sein und wird logisch in einer Weise ausgearbeitet, von der ich hier nur die Pointe veranschaulichen will.

Wenn wir z. B. LGBTQIA+ schreiben, würde Copjec meinen, dass dadurch etwas zusammengestellt wird, das nicht zusammenpasst, nämlich LGBTQIA sowie +, die beide ein unterschiedliches Verhältnis zum Sein haben: LGBTQIA grenzen bestimmte Bereiche ab, stiften damit Identitäten, während + eine unentscheidbare Offenheit eingibt. Identität kommt durch Demarkation zustande, indem sie etwas ein-, damit ausschließt, und bestimmt nach Copjec das männliche Geschlecht – sein Gegenteil vermag dagegen nichts auszuschließen und ist demzufolge weiblich.

Die Geschlechter haben also auch bei Copjec nichts mit dem Leib zu tun, sondern bezeichnen genau zwei – nicht „unendlich viele“ – Voreingenommenheiten, die allein das menschliche Subjekt erzeugen, entweder zielbewusst-borniert oder geistreich-unentschlossen.

Wir können die wirksamen Geschlechter, auch ihre Unverträglichkeit im Moment in den Einstellungen zu den akuten Krisen und Kriegen beobachten, in den einander unversöhnlichen diplomatischen und kriegerischen Vormärschen. Die Krieger können nur einen Status Quo auf Kosten des anderen sehen, während für die Diplomaten nichts so bleiben wird, wie es ist.