In der Betrachtung der Transformation von Jäger- und Sammlergesellschaften hin zu agrarisch fundierten Zivilisationen eröffnet sich ein Panorama tiefgreifender Veränderungen im sozialen Gefüge. Diese Veränderungen sind nicht nur auf die offensichtliche Verdichtung der Bevölkerung und die damit einhergehende Notwendigkeit hierarchischer Strukturen zurückzuführen, sondern auch auf die Evolution des kollektiven Gedächtnisses und der Kommunikationsmuster innerhalb dieser Gemeinschaften.
Mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit und der Entwicklung der Landwirtschaft wuchs die Bevölkerungszahl exponentiell. Dies führte unweigerlich zu einer Komplexitätssteigerung in der sozialen Organisation, da die direkte, egalitäre Kommunikation zwischen allen Gruppenmitgliedern, wie sie in mobilen Jäger- und Sammlergemeinschaften praktiziert wurde, nicht länger aufrechterhalten werden konnte. Die schiere Menge der möglichen Interaktionen innerhalb einer wachsenden Gruppe erforderte die Einführung hierarchischer Strukturen, um die Effizienz der Kommunikation und Entscheidungsfindung zu gewährleisten.
Entscheidend für die kulturelle Evolution dieser sesshaften Gesellschaften war jedoch die Entstehung und Verfestigung von Traditionen durch die repetitive Natur der Kommunikation. Innerhalb größerer, stabiler Gemeinschaften entsteht eine Fülle von Informationen, die im kollektiven Gedächtnis gespeichert werden. Die kontinuierliche Wiederholung und der Austausch von Symbolen und Narrativen über Generationen hinweg führen dazu, dass sich diese Informationen zu festen Traditionen aufschaukeln. Diese Traditionen gewinnen schließlich eine Form der Selbständigkeit und Objektivität, die weit über die individuelle Erfahrung hinausgeht und den kulturellen Kern der Gesellschaft bildet.
Dieser Prozess der Traditionsbildung und die Verfestigung kollektiver Gedächtnisinhalte sind zentrale Elemente im Verständnis der Entwicklung agrarischer Kulturen. Sie illustrieren, wie aus der Notwendigkeit, mit einer zunehmenden Menge an Interaktionen und Informationen umzugehen, komplexe soziale Strukturen und tief verwurzelte kulturelle Praktiken entstehen. Diese Entwicklungen sind fundamentale Aspekte der menschlichen Zivilisation, die die Basis für die weitere soziale und kulturelle Evolution der Menschheit legen.
Stellen wir uns dazu vor, wie Geschichten und Ideen in einer Familie von Generation zu Generation weitergegeben werden. Jedes Mal, wenn diese Geschichten erzählt werden, verändern sie sich ein bisschen und werden immer fester in dem, was die Familie glaubt und wie sie die Welt sieht. Mit der Zeit werden diese Geschichten und Ideen zu Traditionen, die sich so echt anfühlen, als wären sie schon immer da gewesen. Für Kinder, die in dieser Familie aufwachsen, scheinen diese Traditionen und Weltanschauungen die einzige Art zu sein, wie die Welt funktionieren kann. Sie lernen, alles, was ihnen passiert, durch diese Brille zu sehen.
Diese Traditionen und Weltanschauungen sind nicht einfach nur eine Kopie der realen Welt, sondern etwas, das die Gruppe oder die Familie selbst erschaffen hat. Sie sind einzigartig und können von Familie zu Familie oder von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich sein. Es gibt keinen einzelnen Erfinder dieser Traditionen; sie entwickeln sich einfach über die Zeit und verändern sich weiter.
Weil diese Vorstellungen von der Welt so tief in uns verankert sind, ist es oft schwer, sie zu hinterfragen oder zu ändern. Entscheidungen, die wir treffen, basieren oft auf diesen tief verwurzelten Ideen und nicht unbedingt auf logischen Überlegungen. Diese Traditionen und Weltansichten sind wie ein großes Spiel, in dem Muster und Regeln entstehen, ohne dass jemand sie absichtlich entworfen hat.
In verschiedenen Kulturen entstehen eigene mentale Welten, die so unterschiedlich sind, dass sie oft nicht miteinander vergleichbar sind. Kein Mitglied einer Gesellschaft kann das vollständige Bild dieser Welten erfassen. Jede Kultur ist wie ein eigener kleiner Kosmos, der sich durch begrenzte Kommunikation immer wieder selbst bestätigt und verstärkt. Das Weltbild einer Kultur verschmilzt mit der wahrgenommenen Realität zu einer Art virtueller Wirklichkeit, die von denen, die in diesem Rahmen leben, nicht als solche wahrgenommen werden kann. Sie haben keinen Standpunkt, von dem aus sie die Unterschiede zwischen den Kulturen erkennen könnten. Für die Mitglieder einer Kultur erscheint die eigene Kulturidentität als eine Selbstverständlichkeit, als die offensichtliche Struktur der Realität selbst. Alternativen zu dieser Realitätssicht können nur innerhalb der eigenen Kultur entwickelt werden.
In diesem Prozess entwickeln sich spezifische Denk- und Verhaltensweisen, die auch in der materiellen Kultur und in verschiedenen Artefakten sichtbar werden. Es entstehen Systeme, die Gruppenmitglieder dauerhaft einordnen und klassifizieren. Die Gruppen beginnen, sich selbst formal zu definieren, beispielsweise als Abstammungsgemeinschaften, Sittenverbände oder über die Zugehörigkeit zu einem Totem. Die Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft ist exklusiv und verbindlich, gekennzeichnet durch eine Kombination aus Solidarität und Verpflichtung, Schutz und Gehorsam. Dies fördert die Festigung und Erweiterung einer stabilen Sozialstruktur, die oft nach fiktiven Abstammungen und Verwandtschaftsbeziehungen organisiert ist. Größere Gemeinschaften teilen sich in Untergruppen auf, wobei Herkunft, Alter, Geschlecht und Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen eine Rolle spielen können.
In einer solchen Gesellschaft kennt nicht mehr jedes Mitglied jedes andere, was bedeutet, dass Menschen nach übergeordneten Merkmalen klassifiziert werden müssen. Dabei können mehrere Dimensionen gleichzeitig eine Rolle spielen: Die Beziehung zu einer Person kann auch Beziehungen zu Ressourcen, Land, spirituellen Funktionen oder Machthabern implizieren. Klare Zuordnungen gewinnen an Bedeutung. Es ist nicht mehr möglich, alles dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. Viele Aspekte der Realität werden als kontrollierbar erlebt, was ein grundlegendes mentales Motiv der Gesellschaft darstellt, die eine klare Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, zwischen Wildnis und Kultivierung, trifft.
In kleinen Familien oder Gruppen kann man Streitigkeiten noch ganz locker und direkt untereinander klären. Wenn es aber um größere Gruppen geht, steht zu viel auf dem Spiel, als dass man einfach so drauflos handeln könnte. Hier braucht es feste Regeln und Leute, die das Sagen haben, wie zum Beispiel die Ältesten in der Gruppe. In noch größeren und komplizierteren Gesellschaften bildet sich dann so etwas wie ein Häuptlingssystem heraus, bei dem eine Person oder eine Gruppe die endgültige Entscheidungsgewalt hat. So werden Regeln für das Lösen von Streitigkeiten und das Treffen von Entscheidungen festgelegt und offiziell gemacht. Es entstehen feste Positionen und Rollen, die über die Zeit bestehen bleiben. Sogar in sehr alten Kulturen finden wir Beweise dafür, wie zum Beispiel große Gräber und Kultstätten.
Die Macht dieser Führungsfiguren hängt nicht mehr nur von ihren persönlichen Eigenschaften ab, sondern kann auch vererbt werden. Aber am Anfang basiert diese Macht noch sehr auf der Zustimmung der Gruppe und ist nicht einfach erzwungen. Mit der Zeit wird es immer wichtiger, dass die Gruppe zusammenhält. Es entsteht ein Gefühl der Loyalität zur Gemeinschaft, die einem Sicherheit gibt und im Gegenzug erwartet, dass jeder seinen Beitrag leistet, sei es durch materielle Dinge oder durch Einsatz für die Gruppe.
Es wird immer wichtiger zu wissen, zu welcher Gruppe man gehört. Dieses Zugehörigkeitsgefühl wird durch Kultur gestärkt, zum Beispiel durch Symbole, Ursprungsgeschichten und Erzählungen. Es entwickeln sich spezielle Kulturen, die sich durch bestimmte Vorlieben, Bräuche, Mode, Trachten und Ausdrucksweisen unterscheiden. Diese Art der Unterscheidung gibt es nicht nur zwischen verschiedenen Kulturen, sondern auch innerhalb einer Kultur zwischen verschiedenen sozialen Schichten.
Die ideale Größe für Gruppen, die gut Entscheidungen treffen können, liegt bei etwa 5 bis 7 Personen. Wenn eine Gesellschaft wächst, bedeutet das aber, dass weniger Leute im Verhältnis zur Gesamtzahl der Menschen Entscheidungen treffen. Dadurch werden große Gesellschaften komplexer, bilden Machtzentren und entwickeln Ungleichheiten, die sie sehr unterschiedlich von kleinen, gleichberechtigten Gruppen machen.
Das führt zu einigen Folgen, die erklären, warum große Zivilisationen bestimmte Eigenschaften haben. Wenn es mehr beherrschte Menschen gibt, wird das Informationsmonopol der Herrschenden wichtiger. Für die Beherrschten wird das System immer undurchsichtiger. Die Herrschenden können große Informationsnetzwerke aufbauen, während die Beherrschten sozusagen auf kleinen Wissensinseln feststecken, von denen aus kaum übergreifende Kommunikation möglich ist. Obwohl es immer wieder Versuche gibt, von unten her Netzwerke zu organisieren, scheitern diese oft nicht nur wegen Mangel an Ressourcen, sondern auch wegen der Unterdrückung durch die Machtzentren. Deshalb sind in Agrargesellschaften koordinierte Aktionen von Bauern so schwer durchzuführen, und Aufstände verlaufen oft im Sande.
Mit dem Wachstum der Bevölkerung muss auch die Zahl der Spezialisten, seien es spirituelle oder technische, mindestens genauso stark zunehmen. Wenn eine bestimmte kritische Masse an Spezialisten erreicht wird, können Synergieeffekte auftreten. Spezialisten können immer mehr untereinander kommunizieren, selbst wenn ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung gleich bleibt. Dadurch kann eine spezielle Fachsprache entstehen, was bedeutet, dass die Diskussionen, die sie führen – egal ob sie religiöser, philosophischer oder wissenschaftlicher Natur sind – sich vom Alltagsleben entfernen und eine eigene Dynamik entwickeln. Das ist eine wichtige Grundlage dafür, dass sich neue zivilisatorische Wissenssysteme bilden können, wie sie für alle großen Agrarkulturen typisch sind.
Wenn in einer Gesellschaft alle wichtigen Informationen und das Wissen im Zentrum der Macht gesammelt werden, hilft das dabei, neue Wege zu finden, um mit diesen Informationen umzugehen. Erfindungen wie die Schrift, das Rechnungswesen und Schulbildung machen es einfacher und effizienter, dieses Wissen zu verwalten. Dadurch entstehen spezielle Gruppen, wie zum Beispiel religiöse Organisationen, Steuerbehörden oder Leute, die sich um die Infrastruktur kümmern, die all dieses komplexe Wissen verwalten. Weil dieses Wissen immer komplexer wird, können normale Leute in der Gesellschaft es oft nicht mehr verstehen.
Durch diesen Prozess entwickelt sich eine Art von Herrschaft, die schließlich zu den stabilen Strukturen führt, die wir in großen Kulturen sehen. Während in kleinen, einfachen Gesellschaften Macht oft an eine einzelne Person gebunden war, kann sie in größeren Gesellschaften fest etabliert werden. Im Gegensatz zu Gruppen, die sich frei bewegen können, sind Bauern an ihr Land gebunden und können Konflikte nicht mehr einfach durch Wegziehen lösen. Sie müssen Frieden finden und Entscheidungen treffen. Das ist besonders schwierig, weil Bauern oft viel Besitz haben, wie Land, Gebäude, Werkzeuge und Vorräte. Wo es Besitz gibt, gibt es auch Streitigkeiten, Tauschgeschäfte, Betrug, Diebstahl und Raub.
Die Machtstrukturen, die in vielen Gesellschaften entstanden sind, erfüllen offensichtlich ein gemeinsames Bedürfnis nach Schutz und Rechtssicherheit. Aber sie haben auch eine zweischneidige Wirkung: Für die Bauern sind sie sowohl ein Segen als auch eine Last, weil sie zwar Schutz bieten, aber auch Quelle neuer Unsicherheiten sein können.