Mich interessiert auch, woher der rhetorische Elan und die Neigung zur radiklaen Gleichberechtigung, kombiniert mit der Auflösung der Geschlechter des Wokismus kommt. Einen Schlüssel könnte die Weltanschauung der Psychoanalyse liefern.
Diese würde ich, wie folgt, zusammenfassen: Es gibt eine Grundsubstanz oder Energie, aus welcher sich der Kosmos, schließlich das organische Leben bildet. Diese wird im Falle des Menschen nicht völlig aufgebraucht, sondern “baumelt” an dem fertigen Gebilde in einer Art Behälter, aus dem sie jederzeit austreten und alles, das sich ihr verdankt, aufmischen kann. Diese übrig gebliebene Ur-Kraft nennt die Psychoanalyse Sex. Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass es nach diesem Mythos den Sex zunächst gar nicht gibt, sondern er erst dadurch entsteht, dass etwas Elementares nicht aufgebraucht wurde. Sex gleicht insofern der 13. Fee in dem Märchen von Dornröschen, die daheim bleiben muss, weil es nur 12 goldene Teller gibt.
Und wie die 13. Fee drängt er unberechenbar in das bestehende Ensemble, wobei er – mangels eigenem “Teller” – jedes andere Element “besetzen” und sich seiner bedienen kann. Sex hat also nach Beobachtung der Psychoanalyse kein eigenes Organ, sondern kann sich in allem umsetzen, was sich aus seiner Vorstufe gebildet hat. So wie die Kunst keine eigenen Gegenstände hat, sondern sich des vorliegenden Materials einer Umgebung bedient, die sie nicht schafft, sondern auflädt.
Ein leicht verwirrende Rolle spielen dabei die Geschlechtsteile, weil die Psychoanalyse in ihrem eigensinnigen Vokabular den Begriff “Phallus” privilegiert. Mit “Phallus” ist aber zunächst nur “Behälter” gemeint, der die überschüssige Energie verwahrt. Dafür wird das Bild des männlichen Geschlechtsteils benutzt, da es wie “angepappt”, nicht wirklich zum Leib gehörig wirkt, und einen eigenen Willen zu haben scheint. In diesem Sinne verfügen alle Menschen über einen “Phallus”, der sie eben von den Tieren unterscheidet. Tiere haben weder eine Phallus, noch haben sie Sex.
So gesehen, wird die herausragende Bedeutung oder gottgleiche Rolle verständlicher, welche im Mythos der Psychoanalyse der Sex spielt. Denn im Sex “zappelt” die Quelle des Seins, mit dem er umspringen kann, wie er will, infolgedessen. Jeder beliebige Gegenstand oder Teil des Leibes kann sexuell aufgeladen, damit bedeutend werden. Die Geschlechtsteile (jetzt nicht mehr der “Phallus”, sondern leibhaftig) sind nicht privilegiert. Es gibt die verschiedensten Stellen, Möglichkeiten, Umstände und Inszenierungen zu “kommen”, von denen der genitale, mehr noch heterosexuelle Akt eine Variante ist.
Der heterosexuelle Akt ist daher aus sexueller Sicht nicht vorzuziehen. Er hat nur im Vergleich zu allen anderen Umsetzungen die Folge neuen Lebens, wodurch seine Angewohnheit “penetranter” wirkt durch die Generationen. Eine Lebensform, welche die Heterosexualität privilegiert, verringert damit die Wahrscheinlichkeit ihres Aussterbens. Je weniger aber die Fortpflanzung an Schwangerschaft gebunden sein wird, desto unbedeutender wird der heterosexuelle Akt.
Der woke Vormarsch verteidigt die Gleichberechtigung aller Körperteile im Hinblick auf den Orgasmus und weist darauf hin, dass die Geschlechtsteile ihre besondere Stellung nicht der Veranlagung, sondern der Abrichtung verdanken. So wie alle anderen Ausprägungen einer Kultur nicht vorgefunden werden, sondern zurückgehen auf ihre mehr oder weniger zufällige Besetzung durch den Sex.
Manche Theoretiker entdecken hier sogar den Unterschied zwischen “rechts” und “links” als Grundgesinnung. Der rechte Geist hält dafür, dass bestimmte Umsetzungen der Sexualität sich bewährt haben und deswegen bedeutender sind als andere, die niedriger gehängt werden müssen, während für den linken Geist das Gleichmacherische des Grundstoßes im Vordergrund steht, die darin liegende Freiheit.
Links und rechts ließen sich auch als konkurrierende Formen des Genießens beschreiben. Nach dem Mythos der Psychoanalyse ist alles eine Frage des Genusses. Unser Leben ist witzlos, wo der Sex – Leidenschaft oder Begeisterung – keine Rolle spielt. Insofern liegt in allen Dinge, die wir gerne tun, die uns etwas bedeuten, eine sexuelle Befriedigung. Und wir fühlen uns dieser beraubt, wenn ihre Besonderheit in Frage gestellt scheint.
Das können wir etwa gerade in der Erbitterung beobachten, welche der Streit um den Inhalt von Worten auslöst. Jene, denen sie etwas bedeuten, fühlen ihre Befriedigung kompromittiert, während andere wiederum daran ihre Freude haben.
Recht dürfte schließlich die Partei mit den meisten Überlebenden behalten.