Wann schämen wir uns eigentlich? Ein schockierendes Beispiel liefert die portugiesische Pianistin Maria Joao Pires. Sie merkt in dem Clip, auf den ich hier zeige, dass sie für das Mittagskonzerts in Amsterdam das falsche Mozart-Konzert einstudiert hat. Es gelingt ihr zwar, die Situation zu retten, aber für einen Moment tut sich ein Abgrund auf. Dieser macht, denke ich, dass wir rot werden. Die Maske des Alltags verrutscht und darunter kommt – nichts zum Vorschein. Deswegen könnte Scham das Gefühl sein, das wir kurz vor unserem Tod empfinden. Scham ist also eher nicht etwas, in dem unsere Schwächen und Fehler zum Vorschein kommen, sondern das, was uns im Grunde ausmacht und alltäglich überkleistert werden muss. Der “Fehler” besteht darin, dass die Maske unseres Könnens einreißt, nicht mehr intakt gehalten werden kann. Für eine Sekunde taucht dann etwas Gewaltiges auf, das uns andererseits bedeutender vorkommt als alles andere. Weswegen einen die Szene mit der Pires so mitnimmt, auch wenn man gar nicht Klavier spielen kann. Sind wir im Schämen etwa alle gleich? Ist es ein Gefühl, das die Menschheit vereint und nicht – wie die Identität(en) – trennt?
Verlieben wir uns, frage ich auch, in jemand nicht wegen dem, was die Person kann, sondern in einem Moment, in dem sie sich schämt? In Renoirs “The River” gibt es eine Szene, in der ein Kriegsversehrter mit Holzbein bei einer Gruppe weiblicher Teenager auftaucht. Die frechste provoziert ihn so lange, bis er zu Boden stürzt, nur mit großen Schwierigkeiten (wg. seines Holzbeins) aufstehen kann. In dem Moment verliebt sie sich unsterblich in ihn.
P. S. Die Reaktion Riccardo Chaillys, des Dirigenten, ist übrigens die des guten Vaters oder, wenn man es stilisiert, “toxischen Mannes”: er setzt sich einfach über den Abgrund hinweg und zieht die Maske wieder herunter. Darin liegt etwas Rettendes, zugleich aber auch Fakes, denn es wird ja etwas verdeckt, dass durchdringend wirkt und schließlich den Sieg davontragen wird. Man könnte sagen, dass wir ohne die Borniertheit des Mannes aus diesem Abgrund nicht herauskämen. Aber es bleibt nur vorübergehend und behält etwas Schales. Wie der uns nimmer zufriedenstellende Alltag, für dessen Plattheit der Mann einzustehen hat.