Europa zerfällt erinnerungspolitisch in zwei Hälften. Im Westen gilt Auschwitz als Chiffre für den Terror der totalitären Regime des letzten Jahrhunderts, in Osteuropa gibt es Versuche, die stalinistische Gewalt als gleichrangigen Schrecken zu erinnern. Den von Stalin in Kauf genommenen, wenn nicht sogar initiierten Hungertod von mehr als drei Millionen Ukrainern Anfang der 1930er Jahre tauften ukrainische Historiker mit Bedacht „Holodomor“.
Doch ist es nicht Zeit, die Opferkonkurrenz zu beenden und eine integrierte Geschichtsdeutung zu finden? Dies scheint angesichts des europäischen Einigungsprozesses geschichtspolitisch überfällig zu sein. Deshalb war „Bloodlands“ 2011 wohl ein so durchschlagender Erfolg.
Abschied von Auschwitz als Universalchiffre?
Der US-Historiker Timothy Snyder zeichnet darin die Geschichte der osteuropäischen Region von Riga bis zur Krim von 1930 bis 1945 nach, die im westeuropäischen Bewusstsein noch weitgehend Terra incognita ist. In diesen Gebieten wurden 14 Millionen Menschen von Stalins Abteilung für Inneres, NKWD, malträtiert und von Wehrmacht und SS getötet. Snyder entwirft eine Abfolge von Massakern und rückt in effektvollen Montagen die Systeme von Stalin und Hitler zusammen. Auschwitz als Symbol des industriellen Massenmords wird eher nebenher als gültige Gewaltchiffre verabschiedet: Für die Region der Bloodlands von Posen bis Stalingrad waren Genickschuss und Massengrab typisch. Tony Judt adelte das Werk zum „interessantesten Buch zum Thema seit Jahrzehnten“.
Der Clou von „Bloodlands“ ist es, die Rückbesinnung auf den Raum als Analysekategorie für die Historiografie totalitärer Gewalt fruchtbar zu machen. Vor allem von deutschen Historikern allerdings gibt es geharnischte Kritik, die über Detailkorrekturen hinausgeht.
Der Osteuropahistoriker Dietrich Beyrau merkt im Journal of Modern European History spitz, aber zutreffend an, dass Synders Region nicht zufällig exakt „dem Territorium der polnischen Adelsrepublik“ des 17. Jahrhunderts entspricht. Will sagen: Snyder, der sich mit Studien zur polnischen Geschichte einen Namen machte, bleibt einem nationalen polnischen Blick verhaftet, in dem Stalin und Hitler als zwei Seiten der gleichen Medaille erscheinen. Die angekündigte neue, postnationale und auf alle Opfer konzentrierte Sicht sei dies keineswegs.
Noch schärfer urteilt Jürgen Zarusky in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte. Snyder betone auf Biegen und Brechen die Ähnlichkeiten des Stalin- und des Hitler-Systems. Deshalb ethnisiere er den Terror Stalins gegen Polnischstämmige nach 1939. Doch der Nachweis, dass Stalin ähnlich rassistisch wie das NS-Regime handelte, misslänge. Die Nazis wollten die Polen zu einem Helotenvolk machen, deshalb liquidierten sie dessen Elite. Unter Stalin gab es nach 1939 zwar intensiven Terror gegen Polnischstämmige und das Massaker von Katyn, aber, so Zarusky, „keine einheitliche Behandlung der polnischen Elite“. Die Nazis ermordeten knapp fünf Millionen polnische Bürger (Juden und Nichtjuden), dem Stalinismus fielen hingegen etwa 150.000 Polen zum Opfer. Diesen Unterschied schleife Snyder ab, um die Gleichheit von Hitlers und Stalins System zu zeigen. Deshalb habe, so Zarusky, auch der barbarische Angriffskrieg der Nazis in dem Bloodland-Konzept keinen angemessenen Platz.
Tötungen als Folge des Kampfes der Regime
Ins gleiche Horn bläst Manfred Hildermeier, ebenfalls Experte für osteuropäische Geschichte, im Journal of Modern European History. Die Grenzen der blutigen Region seien willkürlich gezogen. So komme nicht vor, dass mehr als eine Million Kasachen Opfer der Stalin’schen Hungerpolitik in den 1930er Jahren wurden – Kasachstan nämlich liegt jenseits der Bloodlands-Region. Vor allem aber hält Hildermeier Synders zentrale These, nach der die Explosion der Gewalt in Weißrussland und der Ukraine wesentlich ein Ergebnis des eskalierenden Kampfes zwischen den totalitären Regimen gewesen war, für falsch.
So sei die massenhafte Tötung von Kriegsgefangenen kein Resultat der Interaktion der Systeme gewesen, wie Snyder glauben machen will – sie fanden statt, weil die Deutschen „der slawischen Rasse kein Lebensrecht zugestanden“ hätten. Bei Synder, so das Resümee, sei der Stalinismus rassistischer und das NS-Regime weniger fixiert auf Ausrottungspolitik, dafür beeinflussbarer durch den Feind, als es je war.
Diese Kritik ist faktenreich. Sie zeigt die Grenzen von Snyders räumlicher Historiografie, vor allem die seiner polnisch verengten Perspektive. Lernen kann man aus dem Erfolg von „Bloodlands“ gleichwohl. Nichts spricht gegen die erzählende, montierende Art der Darstellung, die deutsche Historiker meist nur mit spitzen Fingern anfassen, weil sie im Ruch steht, unwissenschaftlich zu sein. Und: Nichts spricht gegen den Versuch, künftig Erzählungen zu finden, in denen mehr Opfergruppen zu Wort und zu ihrem historischen Recht kommen.