Die Moden und Regeln des Alltags stellen uns nie ganz zufrieden, egal wie weit sie sich entwickeln. Es bleibt immer etwas zu wünschen übrig, das sich mitteilt durch die ungeschriebenen Gesetze einer Gemeinschaft. Ihre Befolgung entscheidet darüber, ob man dazugehört oder nicht.
Die ungeschriebenen Gesetze bestehen in dem, was den geschriebenen entgegensteht oder Hohn spricht. Sie halten insofern Schritt mit der Entwicklung der geschriebenen. Was gestern angesagt war, kann heute phobisch wirken, und umgekehrt. Inzwischen verpöntes Verhalten wird zum ungeschriebenen Gesetz, weil es dem geschriebenen die Nase dreht und damit Vergnügen bereitet. Echtes Vergnügen ist immer diebisch. So sind offiziell egalitäre Gesellschaften untergründig patriarchal-autoritär. Nur wer sich einnehmen lässt von ihren unausgesprochenen Hierarchien, ist mit von der Partie.
Der gewöhnliche Alltag steht ein für eine bestimmte Sicht oder schlechthin Bedeutung des Daseins. Ihn unterzieht und stützt seine Schattenseite, über die man einvernehmlich hinwegsieht – bei genauer Befolgung ihrer unausgesprochenen Regeln.
Die geschriebenen Gesetze verfolgt das Ich, die ungeschriebenen das Über-Ich. Das Ziel des Über-Ichs ist das diebische Vergnügen. Vom Über-Ich bestimmte Menschen heißen Zyniker: sie verachten das geschriebene und genießen das ungeschriebene Gesetz. Der Leitstern der Zyniker ist das Vergnügen. Ihm opfern sie alles.
(Den Zyniker verrät z. B. die Begeisterung offiziell Linker für die “nationale Selbstbestimmung” und in ihrem Sinne vorgebrachte Gewalt.)
Das Medium der ungeschriebenen Gesetze ist die Stimme: der aufdringliche, keinen Widerspruch duldende Ton, dessen empörendes Kommando uns nach Entsprechungen im Alltag suchen und sie dort nie finden lässt. Denn was ihn ausmacht, liegt dem Alltag voraus, hat ihn hervorgestülpt, und er kann’s doch nie erfüllen.
Die (innere) Stimme ist das Organ des Über-Ichs.
In den verstohlenen Freuden entgegen der Normalität ist dieselbe als Ursache ihres Widerspruchs weiter anwesend, übt mittelbar denselben (“ideologischen”) Zwang aus wie sonst auch im Alltag.
Ein korrupter Alltag hat keinen Schatten, sondern ist von diesem durchdrungen. In ihm wird nur noch genossen, in absurden, unbelehrbaren Iterationen desselben Widersinns. Er wird beherrscht allein vom Über-Ich, welches niemals genug kriegen kann.
Das Über-Ich ist zynisch, weil es sich dem Genuss verschrieben hat. Es ist unersättlich. Der subjektive Eindruck davon ist ein Gefühl der Schuld. Das Gefühl ist nicht falsch. Wir sind schuldig, sobald wir uns dem Genuss überlassen. Werden immer unfähiger, ihm zu widerstehen, immer schuldiger.
Dass wir im Banne des Über-Ichs stehen, verrät die Entschuldigung, nicht anders gekonnt zu haben. Überhaupt jede Form der Rechtfertigung für nachlässiges Tun. Besonders heimtückisch, wenn dafür Regeln oder höhere Gewalten eingespannt werden (“Dies tut mir jetzt mehr weh als dir …”).
Anständig handeln wir allein aus Pflichtbewusstsein, nicht um irgendwelchen Regeln zu gehorchen oder ein Glück zu vermehren. Eine Pflicht kann nicht vernachlässigt werden durch die Ausrede, dass damit ein Nachteil abgewehrt wird.
Das Über-Ich will Vergnügen, keine Pflicht. Es tarnt sich als Pflicht, um etwas zu genießen.
Echter Anstand missachtet die Ansprüche der Realität. Deren Umstände oder unerfreuliche Folgen tun seiner Ethik keinen Abbruch.
Frauen haben weniger Über-Ich, weil sie weniger neigen, das, wonach ihnen wirklich ist, zu kompromittieren. Männer haben mehr das Wohl der Gemeinschaft im Sinn und benutzen es, um dem Laster zu frönen, weil sie eher dazu neigen, wonach ihnen ist zu überhören.
Indem wir abfallen von dem, wonach uns ist, errichten wir ein Über-Ich – als Kehrseite des Alltags, in den wir bestrebt sind, uns zu verlieren.
Das moralische Gesetz lautet “Tue deine Pflicht”, ohne inhaltliche Vorgabe, die etwas garantieren würde. Man kann so sein Leben verspielen, ohne zu wissen, weswegen. Das macht Angst.
Nur ich kann meiner leeren Pflicht einen Inhalt geben. Ich gleiche damit einem Künstler. Indem ich ein bestimmtes Tun verabsolutiere. Mein Pflicht darf durch keine weiteren Umstände bedingt sein. Ihre Vernachlässigung ist unentschuldbar.
Sich in seiner Pflicht aufgehoben zu fühlen ist nicht pervers, da der Perverse nichts riskiert, sondern sich rechtfertigt durch das Gesetz (Gute/Nützliche). Der Perverse ist unethisch, indem er sich auf Regeln beruft für die Unerbittlichkeit seines Handelns.
Der kategorische Imperativ dagegen gibt keine Garantie gegen die Fehleinschätzung unserer Pflichten. Er jagt einem durch seine Leere (den Abgrund …) Angst ein. Trotzdem hat er nichts mit dem Über-Ich zu tun. Denn dieses errichtet sich immer auf Regeln, die es nicht selbst geschaffen hat, und verwendet sie, um sich gehen zu lassen (sein Vergnügen zu mehren und zu rechtfertigen). Der kategorische Imperativ schlägt keinen Ton an, hat keine Stimme, die höhnt und lästert.
Schuldig fühlen wir uns, sobald wir uns jemand vorstellen, der sein Spiel mit uns spielt, dabei mehr weiß als wir. Erst wenn wir diese Vorstellung aufgeben – dass es jemand gibt, der weiß, was wir zu tun haben – geraten wir aus dem Bann des Über-Ichs.
Meine einzige Pflicht teilt sich mir mit wie eine unwillkürliche Regung des Körpers oder Gemütes, die ihre Quelle in etwas haben, das mir fremd scheint, und durch nichts gerechtfertigt ist als sich selbst.
Wie lässt sich das Über-Ich bewusst machen und dadurch entschärfen? Indem man seinem Vergnügen das Diebische nimmt –- durch Überidentifikation. Man kritisiert es in diesem Fall nicht, sondern schreibt die ungeschriebenen Gesetze aus, was sie alltäglich macht. Dadurch verlieren sie die Kraft, den unhinterfragten Alltag zu stützen.
Wer sich an seine Pflicht hält und umsetzt, wonach ihm wirklich ist, handelt nicht ideologisch oder authentisch. Was nicht verbürgt, dass er deswegen das Gute auf der Welt vermehrt.
Frank Kafka
Vor dem Gesetz
Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen.
»Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.«
Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt:
»Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kam nicht einmal ich mehr ertragen.«
Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.
Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei:
»Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.«
Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange.
Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert.
»Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der Türhüter, »du bist unersättlich. «
»Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt der Mann, »wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?«
Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an:
»Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«