Wenn wir etwas allein anhand seiner Koordinaten – nicht seiner Widersprüchen – feststellen, begünstigen wir Unverbundenheit und Mechanik auf Kosten von Gemeinschaft und Entwicklung. Auch abwesende Dinge formen unsere Erfahrung.
Erst nehmen wir die Dinge wahr, wie sie in Raum und Zeit erscheinen, dann stellen wir Überlegungen zu ihnen an – glaubt man heut’ in der Regel und denkt nicht weiter darüber nach.
Bestenfalls hält man noch die Meinung für richtig, durch Geistesanstrengungen würde der erste Eindruck nachträglich frisiert und ein ideologisches (notwendig falsches) Bild der Wirklichkeit erzeugt.
Hegel erkennt das genaue Gegenteil: Raum und Zeit sind die Werkzeuge der Verblendung und verunmöglichen uns daher zu sehen, was wirklich Sache ist.
Dazu muss man Kants Gedankenexperiment nachvollziehen und sich irgendeinen Raum vorstellen, dessen Gegenstände einer nach dem anderen verschwinden. Bereitet keine Schwierigkeiten. Was einem jedoch nicht gelingt: den Raum, wenn er dann endlich leer ist, selbst verschwinden zu lassen. Ähnlich mit der Zeit: man kann sich nicht vorstellen, wie sie selber anfängt oder wann sie einmal aufhört.
Kant hat draus abgeleitet, dass Raum und Zeit jeder Anschauung zugrunde liegen und daher auch jedem Verständnis der Welt und ihrer Verhältnisse. Hegel streitet das ab: in Wahrheit begreifen wir gar nichts durch solche Grundformen der Anschauung, vielmehr verzerren Raum und Zeit, was es mit allem auf sich hat, und sind daher Urformen der Ideologie. Denn Raum und Zeit sind bloß in der Lage, Dinge voneinander zu isolieren, Differenz auszudrücken. Aus dieser erhellt jedoch nicht, was es mit diesem oder jenem auf sich hat. Vielmehr wird genau das – Bedeutung – zersetzt oder verunmöglicht durch die Verteilung ihrer Bestandteile in Raum und Zeit.
Wenn ich einen Blumenstrauss neben einem Messer fotografiere, ist der räumlichen Anordnung der Gegenstände nicht zu entnehmen, was sie taugen. Das Messer könnte ein Geschenk oder eine Mordwaffe sein – oder es wurde nur benutzt, die Blumen abzuschneiden usf. Die reine Wahrnehmung liefert keine brauchbaren Informationen. Sie gehe dem Denken nur insofern voraus, schreibt Hegel (in der WISSENSCHAFT DER LOGIK II 259), als der Begriff aus ihrer Dialektik und Nichtigkeit als ihr Grund hervorgeht, nicht aber, daß er durch ihre Realität bedingt wäre. Der zeitlichen Priorität sinnlicher Erfahrung entspricht mit anderen Worten in logischer Hinsicht nur ihre Minderwertigkeit. Das abstrahierende Denken ist daher nicht als bloßes Auf-die-Seite-Stellen des sinnlichen Stoffes zu betrachten, welcher dadurch in seiner Realität keinen Eintrag leide, sondern es ist vielmehr das Aufheben und die Reduktion desselben als bloßer Erscheinung auf das Wesentliche, welches nur im Begriff sich manifestiert.
Im Vergleich zum Denken ist sinnliche Erfahrung für Hegel also philosophisch wertlos. Sie verdunkelt eher, was der Begriff herausstellt. Nur ein Einfall oder Standpunkt ist in der Lage, den sinnlichen Überschwang unserer Erfahrung genügend herunterzuspielen, damit Bedeutung hervortreten kann. Was Hegel unter abstrahierendem Denken versteht, wird klarer, wenn man es zeitgenössisch “Kontext” nennt: nicht den Koordinaten im Raum oder einem Datum auf dem Zeitstrahl entspringt Bedeutung, sondern der Rolle, die etwas in einem größeren Zusammenhang spielt, der bei Hegel BEGRIFF heißt.
Die PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES meint dazu an entscheidender Stelle: An dieser Darstellung des Verlaufs der Erfahrung ist ein Moment, wodurch sie mit demjenigen nicht übereinzustimmen scheint, was unter der Erfahrung verstanden zu werden pflegt. Der Übergang nämlich vom ersten Gegenstande und dem Wissen desselben zu dem andern Gegenstande, an dem man sagt, daß die Erfahrung gemacht worden sei, wurde so angegeben, daß das Wissen vom ersten Gegenstande, oder das Für-das-Bewußtsein des ersten An-sich, der zweite Gegenstand selbst werden soll.
Was wir erfahren ist niemals zufällig, sondern bestimmt durch das, was wir erlebt haben, erwarten, und wird dann nur, indem es uns im Hinblick auf dieses überrascht, überhaupt wahrgenommen.
Hegel zieht alles Zufällige von einem Ereignis ab, um den Begriff herauszustellen, der als einziger die Erfahrung ermöglicht. Begriff ist bei Hegel ein anderes Wort auch für Widerspruch, indem, was immer ich denke oder tue, zugleich sein Gegenteil ermöglicht, das somit Teil seiner Bedeutung ist. Wenn ich von München nach Ingolstadt fahre, sehe ich davon ab, mir die Fahrt zu ersparen – wenn ich jemandem einen Platz in meinem Herzen einräume, unterlasse ich es, diesen besetzt zu halten – indem ich das eine tue, verzichte ich auf das andere, welches meinem Tun “negativen Inhalt” gibt infolgedessen. Der Begriff einer Sache umfasst ihre widerstreitenden Momente, ist daher stets geladen. Sein Spannungsfeld bezieht die Dinge aufeinander und schafft Bedeutung, indem sie die eine oder andere der widerstreitenden Möglichkeiten fördern. Alle Wahrnehmung ist so für Hegel eine Weiterung von Konflikt. Die Verteilung ihrer gleichzeitigen Bestandteile in Raum und Zeit täuscht darüber hinweg.
Wenn das Bild eines Menschen in seiner Jugend neben ein älteres von ihm gelegt wird, sind das – unter Raum-Zeit-Gesichtspunkten – zwei unterschiedliche Dinge. Abstrahiert man aber von der Differenz, zeigen sie denselben Menschen. Und Nicht-Menschen. Denn der Begriff schließt ein, dass er sterben wird. Wovon das Gesicht auf dem älteren Foto Zeugnis ablegt. Über solchen Widerspruch täuscht die Aufteilung in zwei räumlich Bilder, Differenz signalisierend, hinweg. So ist es nach Hegel mit allen Unterschieden, die Raum und Zeit ermöglichen: sie verdecken durch Betonung der Differenz die ontologische Wahrheit des Widerspruchs und sind insofern ideologisch.
Hegel muss daher am meisten von Gilles Deleuze abgelehnt werden, dessen ganze Philosophie auf dem ontologischen Primat der Differenz beruht, der alle weiteren Dinge und ihre Bedeutung entquellen. Zu Widersprüchen kommt es in Deleuzes Universum nur in Folge nachträglicher Verhärtung oder zufälliger Wirbel, die sich störend in den Überfluss immer weiterer Verschiedenheiten stemmen, welche sonst friedlich miteinander einher gehen. Für Hegel dagegen sind die Dinge nicht nur untereinander, sondern auch in sich selbst zerworfen. Bei Deleuze gibt es keinen inneren Konflikt, seine Verschiedenheiten hängen nicht voneinander ab und machen sich nichts streitig.
Hegel misstraut der unmittelbaren Wahrnehmung und hält sie für eine Eskamotierung des allgegenwärtigen Konfliktes im Grundfeld des Seins und Denkens – nur der Begriff erschließt diesen in seiner unableitbaren Wahrheit.