Im Buschtaxi durch Madagaskar

Steppengras silberweich im Mondlicht, am Horizont die Riesenschatten kahler Felsenberge unter dem Glitzersand der Sterne, zwei Minibusse schräg am Pistenrand, Insassen vertreten sich die Beine. Eine Safari-Gruppe? Mit Kleinkindern? Um Mitternacht? Nein, wir befinden uns auf der Ost-Südwest-Magistrale Madagaskars, und hier pausiert gerade der Überland-Dienst.

Die Bundesstraßen der roten Rieseninsel sind oft Pisten, kaum passierbar. Wer’s eilig hat oder sich leisten kann, hüpft per Flugzeug von Stadt zu Stadt. Normalverbraucher aber fahren taxi brousse. Die meist japanischen Kleinbusse erreichen – früher oder später – jeden noch so versteckten Winkel Madagaskars. Ihre Bahnhöfe sind das quirlige Verkehrzentrum einer Ortschaft: von bunt beschilderten Holzbuden umdrängte Lehmplätze, auf denen Pritschenwagen, Taxen, Fahrräder, Rikschas, Reisende, Bettler und fliegende Händlern durcheinander wimmeln.

Den Sitzplatz zu ungefähr 2 Cent pro Kilometer sollte man, heißt es, am Vortag in einer der Buden reservieren. Was nicht bedeutet, dass es zur angegebenen Zeit auch losgeht. Abgefahren wird, wenn der Minibus ganz voll ist: drei Personen pro Sitzreihe, zwei neben dem Fahrer. Wem das Warten zu lang wird, der findet in den großen Städten unschwer ein anderes taxi brousse, das frührer losfährt (die Betreiber-Genossenschaften akzeptieren ihre Fahrscheine untereinander).

Im taxi brousse lernt man Madagaskar am gründlichsten kennen. Die Fahrt ist manchmal vielleicht mühsam, aber nie gefährlich. Die Madegassen sind, selbst wenn sie selber manchmal das Gegenteil behaupten, ein friedliches Volk, nicht unähnlich den ihre Insel bevölkernden Tiere, von denen kein einziges riskant für die Menschheit ist: Antananarivo, ihre bunt über Hügel gewürfelte Hauptstadt, gleicht einer Kinderbuchillustration, und die nationalen Streitkräfte waren bis jetzt noch in keinen Krieg verwickelt.

Freilich, das Land gehört zu den ärmsten der Welt. Gemessen an vergleichbaren Staaten ringsum scheint es trotzdem eine Insel der Verschonten. Etwa liegt die AIDS-Rate bei einem 20stel des sonst in Afrika Üblichen, kaum höher als in Europa. An der Enthaltsamkeit der Bevölkerung kann es nicht liegen, eher an den schlechten Verbindungswegen – zum Ausland, aber auch der Orte untereinander. Auf manchen Strecken beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit des taxi brousse 15 Stundenkilometer: 50 Stunden für 800 Kilometer, ein Schiff ist schneller. Seit sich dank neuem Präsidenten die Entwicklungshilfe für den Straßenbau in wirklichen Asphaltdecken (statt Kontobewegungen Richtung Ausland) manifestiert, sind Verbesserungen zu beobachten. Von Antananarivo nach Fianarantsoa, dem südlichen Hochland-Zentrum, und von dort nach Westen zur Küstenstadt Toliara ist die Strasse schon größtenteils geteert. Sie ist anfangs sehr kurvenreich, geht durch Bergland; man schlingert in den Kurven wie ein Schiffspassagier bei Seegang, für sensible Mägen empfehlen sich Dragees gegen Flugübelkeit.

Das Hochland von Madagaskar ist Reisanbaugebiet. Von den Hängen terrassieren sich die Wasserfelder abwärts wie in Asien, aus dem die Madegassen vor 1000 Jahren eingewandert sind. Mit dem Reis, den sie täglich dreimal verzehren, kam auch der asiatische Brauch, Menschen vor Sitzkarren zu spannen. Antsirabe, die Bäderstadt auf halbem Weg, wimmelt von bunten Rikschas. Hier befindet sich auch die Brauerei des allgegenwärtigen „Three Horses Beer“, im Umland blühen die Obstgärten und ein verhältnismäßiger Wohlstand sättigt das Stadtbild. – Unser gepäckübertürmter Minibus torkelt schon wieder hinaus…

…zwischen übersteppte, von rostigen Erosionsrinnen durchnarbte Hänge. – Wenn man sich Madagaskar mit dem Flugzeug nähert, leuchtet im Bereich der Flussmündungen das Meer in rotem Erdton. Wie Spanien, Griechenland oder der Nahe Osten war die Pazifikinsel vor Ankunft der Menschen dicht bewaldet. Die wenig verbleibenden Forst-Flecken sind nun zu Nationalparks erklärt worden. Der Minibus durchquert soeben ein solches geschütztes Gebiet. Sein Urwald wirkt mehr wie intensives Buschwerk. Die einmaligen Tiere, die sich darin verstecken, sind überall woanders in der Welt von nachrückenden Arten ausgerottet worden. Nur in Madagaskar haben sie dank einer frühen Trennung vom Festland überleben können, die Halbaffen, Loris, Makis oder Lemuren. Aus ihren teetassenrunden Augen staunt einen die Kindheit des warmblütigen Lebens auf dieser Welt an.

In Fianarantsoa wartet der Busbahnhof mit seinen Gepäckträgern, Karren und Taxen am Rand der Unterstadt. Dahinter verläuft die Schmalspur der einzigen noch fahrenden Eisenbahn zur tropenschwülen Ostküste: 170 km durch atemberaubenden Regenwald immer steiler abwärts. In der Oberstadt weiten sich die Strassen zu kolonialen Alleen; trotz buntem Dauermarkt auf beiden Seiten passen zwei Fuhrwagen bequem aneinander vorbei. Noch weiter oben an einer steilen Gasse liegt das wohl anmutigste Hotel Madagaskars im Stil eines Schweizerhauses (http://www.tsaraguest.com/). Wunderschöne Ausblicke öffnen sich aus dem Garten auf die Stadt, ihre Umgebung, die guten Wein und sogar Champagner produziert.

Nach Toliara, an die Westküste, wird weiter über Nacht gefahren – in den heißen Teil der Insel, hinab durch Rinder-Steppen und Wildwest-Felsformationen: hier reist es sich im kühlen Sternenlicht bequemer. Das Asphaltband reißt nun manchmal ab, und man humpelt dann über roten Pistenkarst. Barackenstädte tauchen im Schweinwerferlicht auf. Hier wird nach Edelsteinen geschürft. Im Morgengrau kommt dichter Nebel auf – gibt zögernd den Blick auf Wüste frei, spärlich durchstrüppt, hier und da akzentuiert von gewaltigen Affenbrotbäumen, die aussehen, als steckte ihre Krone im Erdreich, während die Wurzeln in den Himmel ragen.

Zur Küste taucht das heißer werdende Asphaltband in das Schuppengewirr am Stadtrand Toliaras. Hier liegt auch bald der Busbahnhof, bedrängt von Renault-Taxis und vielen, vielen Rikschas. Im Ring des lebhaften Barackenviertels backt der getünchte Kolonialkern der Provinzstadt im ewigen Sonnenlicht.

Die Menschen hier sind dunkler, afrikanischer als auf dem Hochland. – Die weiten, verkehrsarmen Straßen hinuntergehend, landet man irgendwann immer auf „La Terrasse“, der Veranda des Bar-Restaurants: hier muss jeder in Toliara einmal vorbei. Ein kurzes Bier, schon hat man wieder jemand kennen gelernt und mit ihm die Neuigkeiten und Gerüchte der kleinen Stadt. Der deutsch sprechende Madegasse am hinteren Ecktisch stellt sich als Philosophieprofessor der örtlichen Universität heraus. Bei ihm sitzt ein abgefallener Schweizer Missionar und Ex-Drogenberater, der hier seinen Lebensabend verbringt (seine Mini-Franken-Rente wiegt in Madagaskar das Zehnfache). Im Küstenhotel, erfährt man, residieren Meeresbiologen aus Kiel und vermessen das Riff; in der Industrie und Handelskammer schiebt ein pensionierter Reiseleiter aus Hamburg Dienst im Bestreben, das germanische Berufsschulsystem in Südmadagaskar einzuführen. Von Anmutung und Charakteren fühlt man sich bald ins Filmdekor von Lohn der Angst versetzt: alkoholgetränkte Lebensschicksale am Ende der Welt, schwitzende Kaschemmen nach Mitternacht und leichte Mädchen.

Der Strand vor Toliara ist leider unbenutzbar. Dreißig Kilometer weiter nördlich aber die „Bundesstraße 9“, eine Staubpiste, hinauf reichen die hölzernen Bungalowanlagen von Ifaty ans Meer, etwas runtergekommener Maledivencharme, gallisch geerdet, ausgesprochen preiswert.

Vom Airport vor den Toren Toliaras startet täglich ein Inlandsflug für 100 Euro in die Hauptstadt, die einem fast ein bisschen zu kühl anmutet nach dem Wüstenklima des Südwestens.

Wenn man dann in Antananarivo die zentrale Avenue de l’Independance hinaufgeht, den stillgelegten Bahnhof im Rücken lassend, vorbei an dem notorischen Wintergarten und Restaurant „Glacier“ (dem „La Terrasse“ der Hauptstadt), führen bald rechts und links zwei steinerne Freitreppen die Stadthänge hinauf. Am Fuß der rechten prangt das Schild des „Goethe-Zentrums“. Hier lernt die Jugend Madagaskars Deutsch. Die meisten von ihnen werden trotz dieser Kenntnis ihre Insel nie verlassen und freuen sich, wenn man sie in der öffentlichen Cafeteria im zweiten Stock in der erlernten Sprache anspricht. Wann haben sie schon einmal Gelegenheit, sie zu praktizieren?