Warum es auch in Europa so gut wie keine guten Filme mehr zu sehen gibt (auch nicht von Lanthimos)


Unsere Leistungsgesellschaft lässt ausschließlich Helden-Geschichten zu – Filme und TV-Stücke, die auf die eine oder andere Art vom Sieg der Gerechtigkeit träumen.
Wieso lässt die Erfüllung „immer noch“ auf sich warten? Warum werden Erfolge nicht greifbar? Warum entscheiden die Menschen sich nicht für das offensichtlich Richtige, wenn es in ihrer Macht steht?
Weil es, lautet die Antwort, böse Menschen gibt, die es für alle anderen verderben – infolge ihre sture Weigerung, sich auf die Bedingungen einzulassen, welche das Glück der Welt garantieren. Wenn uns guten Menschen nur stark genug an der Erfüllung läge, würde sie der Gesellschaft auch zuteilwerden. Leider ist es aber „immer noch“ so, dass einige wenige die bekannten Bedingungen für das große Glück, die angehäufte Weisheit der bisherigen Menschheitsgeschichte, missachten. Ihre Auflehnung gegen das, was unbestritten ist, ruiniert alles. Diese Schuldigen sind es, welche uns von der Gerechtigkeit fern halten.
Und der erste Schritt zur Erlösung besteht in ihrer Identifizierung!
Die allgegenwärtigen Helden-Geschichten verdanken sich dem Zerfall in Schuld und Unschuld. Ihre Bedeutsamkeit beruht auf der Annahme, dass im Fall von Enttäuschung und Schmerzen die dafür verantwortlichen Parteien kenntlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden können. Wenn Nachteile sich auch nie ganz vermeiden lassen, ist es doch möglich zu wissen, wie sie entstehen konnten und wer sie verursacht. Erzählerische Bewandtnis kommt nicht nur dadurch zum Tragen, dass uns signalisiert wird, wie die perfekte Welt auszusehen hätte, sondern auch, warum ihre Vollendung „immer noch“ auf sich warten lässt – und wie dieser Verzögerung Herr zu werden wäre.
Verzichten müssen wir auf die uns zustehende Perfektion, weil ein schweres Verschulden vorliegt. Mindestens können wir aufgeklärt werden, wer dafür verantwortlich ist. Restlos bedeutend aber wird die Welt, um die man uns pausenlos betrügt, erst, wenn wir nicht mehr unter den Weiterungen der Taten jener Schuldigen zu leiden haben oder wenigstens vorläufig nicht ohne Verständnis oder Wiedergutmachung (Quote) auskommen müssen.
Der Archetyp des Verantwortlichen ist der Teufel, heut‘ seine schurkischen Parodien. Sie bestätigen, dass der Schuldige, nicht der Unschuldige zur Rechenschaft zu ziehen ist für den unvollkommenen Zustand der gegenwärtigen Welt und Gesellschaft.
In der Helden-Geschichte übernimmt dann der Protagonist die Verantwortung für das Erreichen des Ideals und opfert dieser Aufgabe alles. Damit verwirklicht er sich zugleich selbst. Das Drama des Helden ist ein Drama des Willens. Menschliche Herausforderungen werden aufgefasst am Leitfaden von Beweggrund, Kraft und Beherrschung – die Lösung liegt bereit in den Hilfsquellen des Selbsts. Die Umwelt liefert sozusagen Material für die Selbstwerdung.
Im Streben nach vollendeter Unschuld besteht der Sinn des Lebens.
Das gesellschaftliche Programm fördert die Kräfte der Selbstwerdung. Es gibt inzwischen kaum noch einen Film, keine Serie, die ein anderes Thema hätten. Die Betonung liegt auf den Fähigkeiten des Willens: Wer etwas wirklich will, schafft es auch. Ermutigt und unterstützt werden die richtigen Entscheidungen. Kritisiert werden Aufschub, Unentschiedenheit und Schwäche. Erfolg aber wird belohnt mit allgemeiner Billigung und Anerkennung.
Heldentum steht nicht für diesen oder jenen Inhalt, sondern für eine bestimmte Haltung. Um sie sammelt sich alles, was wir Bewusstsein nennen. Nur der Tod kann das Sehnen beenden; denn auch nach der Erreichung seines Ziels lebt das Heldische weiter im Streben seiner Protagonisten.
Jede Gegenwart bleibt „immer noch“ zurück gegenüber der Zukunft, infolgedessen. Und der einzelne Mensch ist verantwortlich für sein persönliches Zurückbleiben.
Primitive Helden sind körperlich stark, selbst noch, wenn sie z. B. eine Behinderungen bekämpfen, kultiviertere Helden legen sich ins Zeug für Gerechtigkeit und soziale Reformen, lassen sich nicht entmutigen von Familientragödien oder solchen der Menschheit. Sie sind allgemein bekannte oder verborgene, einsame Helden. Einige warten auf ein neues gesellschaftliches Bewusstsein, um endlich Anerkennung und Ehre zu erfahren.
Der Endsieg des Helden darf nur zum Schein in Frage gestellt werden vom sog. „falschen Ende“ seiner Geschichte (Jon Snows Tod). Das falsche Ende stimuliert vielmehr die noch größere, nuanciertere Anstrengung, sein Ziel notfalls durch den Tod zu erreichen. Die Wiederauferstehung (happy end) versichert uns anschließend, dass die Schwäche nur vorübergehend war, eine Prüfung. Schließlich hing alles von der Entschlossenheit des Helden ab. Seine Wiederauferstehung verdankt sich schier dem Durchhaltewillen nach der Erschöpfung aller Kraftreserven. Das Schicksal lässt niemand hängen, weil es jeden von uns, der durchhält, zum Helden machen will.
Die Wiederauferstehung bestätigt schließlich das Überlieferte (den Programmplatz) – führt in keine neue Richtung. Sie signalisiert, dass Heldentum siegreich ist, wenn es nur durchhält.
Die Heldengeschichte macht alle Probleme des Lebens zur Willensfrage.
Ihr Protagonist trägt die Gesellschaft, strebt nach Bedeutung und Macht. Das bewahrheitet sich am meisten, wenn er einsam in den Tod schreiten muss (die Feuerwehrmänner von Chernobyl). Scheint er auch isoliert, ist er trotzdem nicht oder nur oberflächlich entfremdet. Der Held steht knietief in den Voraussetzungen seiner Kultur, in der Regel freier von Widersprüchen als der Normalbürger. Ein Kulturkreis spürt dies, reklamiert den Helden trotz aller Reibungspunkte und Widersprüche für sich. Mag einen bestimmten Helden im Moment auch noch niemand verstehen oder würdigen, Anerkennung und Verehrung wird sich einstellen mit der Zeit.
Meine These ist, dass wir nur noch Heldengeschichten leiden und zulassen. Wer etwas gegen das herrschende Schema aufbietet, findet keinen „Sendeplatz“, auch nicht im dafür angeblich reservierten Arthouse-Bereich. Dort wohlgelittene Macher wie z. B. jene der Berliner Schule oder neuerdings Lanthimos dürfen ebenfalls nie darauf verzichten, die Schuldigen zu identifizieren in ihren Werken und damit den Heldentraum verhinderter Größe weiter anzufüttern.
Was wäre die Alternative? Ich würde meinen, Figuren wie Monsieur Hulot oder Jesse Pinkmann, die außerhalb der Gesellschaft existieren. Janosch fällt mir ein, dessen Roman Cholonek ich für bedeutender halte als die Blechtrommel. Auch Ethan Edwards aus The Searchers wäre so eine Figur, Sam Spade im Malteser Falken. Oft werden derlei Figuren wie z. B. auch Gerhard Polt oder Harald Schmidt zunächst mit Helden verwechselt, begrüßt und verehrt für Qualitäten wie Mitleid, Dienst an der Gemeinschaft, Tapferkeit, Kühnheit, Ausdauer, selbst Demut. Man versteht die Figur dann noch aus dem überkommenen Sinnhorizont und unterstellt, sie tue, was sie tut, um die Unschuld zu fördern. Was aber genau nicht der Fall ist. Wenn schließlich herauskommt, dass es sich um keinen brauchbaren Helden handelt, wird er ignoriert, lächerlich gemacht, sogar verfolgt (Böhmermann). Diese Reaktion verändern sich auch nicht mit der Zeit nicht. Die Figur wirkt in späteren Jahren genauso widersprüchlich wie zu ihrer Entstehungszeit.
Sie besticht nicht durch heroische Qualitäten, sondern eher durch Treuherzigkeit – in einer Hinsicht, welche nicht die Gesellschaft, sondern jenes zufälliges Leben bestimmt der Person, die es führt. Dabei ist sie gesinnt.
Da ihre Haltung nicht erpicht ist auf Unschuld, wohnt ihr auch nichts inne, das nach Verwirklichung strebt. Wir haben es mit keinem Idealisten zu tun. Die Figur ist auch nicht stark. Eher fromm. Infolge bekleidet sie auch keinen Rang. Sie ist antriebslos, erstrebt kein Selbst im Raum der Möglichkeiten.
Ihr Befinden verlangt kein besonderes Wollen oder Planen. Sie ist gelassen. Nicht wie jemand, der reich und mächtig ist und sich zur Demut zwingt, sondern weil sie „inmitten“ weilt, unaufgeregt in ihrer Haltung gegenüber einer besorgten Umgebung. Sie kommt klar mit der Welt, wie diese zerbrochen ist und nicht andres sein soll.
Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. (Genesis 28)
Die Treue, welche der Anti-Held hält, stützt sich auf nichts Bewährtes, nichts Anerkanntes. Er ist unverzeihlich Mensch, ohne Träume, ohne sich etwas vorzumachen, ohne unschuldig oder schuldig zu sein, ohne den Willen, andere moralisch zu überragen.
Sein Befinden herrscht über jede gesellschaftliche Bedeutung in schmuckloser Menschlichkeit. Gesinnt zu sein, ist keine Willensfrage, sondern hält sich dem Verlust aller Möglichkeiten gegenüber aufrecht im Geschenk einer echten Auferstehung.
Das Ekel Alfred war einmal so eine Figur im deutschen Fernsehen. Wenn ich an Serien denke, die Menschen und keine Helden zeigen, muss ich lange nachdenken, dass mir eine einfällt. Selbst der Held von Breaking Bad ist mir zu heroisch. Mein Herz gehört seinem Sidekick Jesse Pinkmann. Faszinierend fand ich auch die brüchigen Charaktere in Séverine Bosschems Xanadu oder in Maya Ilsøes Die Erbschaftdie, die beiden besten europäischen Serien, die mir einfallen.