Ludwig Wittgenstein ist sicher der Philosoph, der am meisten über Zahnschmerzen nachdenkt. Sie werden unentwegt herangezogen als Beispiel für „innere Zustände“. Insofern stehen sie auf derselben Ebene wie z. B. Absichten, Vorstellungen, Gedanken, Erinnerungen, Hoffnungen, Meinungen, welche sich alle – wie Zahnschmerzen – von Häusern, Autos, Wolken oder Pferden dadurch unterscheiden, dass man sie z. B. nicht fotografieren oder sich nicht über ihr Vorhandensein im Gesichtsfeld täuschen kann. Mit „Innerem“ hat es etwas Verwickelteres auf sich als mit „Äußerem“, und Wittgenstein arbeitet die Dichte sowie das Wesen dessen, was wir mit „innen“ meinen, am Beispiel von Zahnschmerzen heraus. Er hätte stattdessen auch „Gedanken“ oder „Bewusstsein“ nehmen können, aber Zahnschmerzen sind irgendwie griffiger, ihre Auseinandersetzung wirft anschaulicher ab, was das Seelische ausmacht.
Wittgenstein wird allgemein aufgefasst als Philosoph der Sprache, redet selber unentwegt von „Grammatik“, welche er herausarbeite. Das ist zwar richtig, kann aber auch in die Irre führen, denn Wittgenstein ist kein Linguist oder Semiotiker, sondern Philosoph, dem daran liegt, festzustellen oder in seinem Fall herauszupfriemeln, was niemand bestreiten möchte: die Bedeutung von Zusammenhängen, in denen Worte eine Rolle spielen. Man kommt Wittgenstein daher ev. näher, wenn man ihn – statt Sprach- – Bedeutungsphilosophen nennt. Ihn interessierte nicht die Erkenntnis oder das Sein, sondern in welcher Weise Wichtigkeit statthat.
Bedeutung kann bei Wittgenstein wie in der Mystik nicht ausgesprochen werden, sondern zeigt sich wie der Gegenstand eines Mosaiks, z. B. ein Gesicht, das in keinem der Einzelteile enthalten ist, aber durch ihr Zusammenkommen einmal so, einmal anders erscheint. Wittgenstein ist der immanenteste, zugleich der spirituellste Philosoph. Er spricht ausschließlich von den Einzelteilen des Mosaiks, und hält jede andere Rede für sinnlos. Für das Gesicht aber gibt es keine Worte, es erscheint vielmehr in einem Zusammentreten wie der Witz eines Gedichtes oder Kunstwerks.
Es sind aber nicht nur Worte, die wirklich zusammenkommen müssen, damit ein Gesicht erscheint, Bedeutung statthat, sondern auch Gegenstände, Verläufe, Körper in Bewegung usf. Eigentlich ist es das so zustande kommende Gesicht, seine Hervorbringung, was Wittgenstein unter „Sprache“ versteht. Worte und Texte sind Bestandteile des Mosaiks, enthalten aber noch nicht das Gesicht, sondern tragen zu dessen Erscheinung bei.
Die Bedeutung von Zahnschmerzen besteht oder erschöpft sich daher nicht darin, dass dieses Wort ein Namenstäfelchen wäre, welches einem inneren Zustande umgehängt wird, um dann an seine Stelle zu treten und verwaltet werden zu können in der Sprache, sondern hat zu tun mit der Tatsache, dass der Schmerz sich lokalisieren lässt, Ansatzpunkte liefert für ein Eingreifen oder die Schonung bestimmter Stellen im Körper der betroffenen Person, deren Unfähigkeit zu bestimmten Leistungen begründet usf. Zahnschmerzen bestehen nicht nur im Gefühl des Wehtuns, sondern in allem, was daraus folgt, weiter getan werden kann. Das Wort „Zahnschmerzen“ ist nur ein Bestandteil dieses Mosaiks – nicht die alleinige Quelle oder Miniaturausgabe seines Witzes oder „Gesichts“, sondern Innehaber einer Rolle im Spiel hinsichtlich dessen Zustandekommens.
Auch die Marter in meinem Mund ist ein Bestandteil, nicht das Wesen von Zahnschmerzen, solange ich bei Bewusstsein bin.
Wittgensteins Behandlung von Zahnschmerzen trifft auf alle anderen inneren oder seelischen Erscheinungen zu, also auch auf den Traum. Sein Wesen besteht nicht darin, dass ich ihn habe, sondern in allem, was noch in dem Zusammenhang geschieht oder geschehen kann. Das Wort „Traum“ ist kein Namenstäfelchen, das irgendetwas umgehängt wird, sondern Bestandteil eines Mosaiks, dessen Gesicht kraft seiner und anderer Geschehnisse hervortritt. Zum Beispiel kann und soll ein Traum erzählt werden, um Bedeutung zu erlangen – durch das Mitgehen etwa von Zuhörern und weitere Folgen. Die „Grammatik“ des Träumens ist bei uns heute eingerostet, nicht weil sie bedeutungslos wäre, sondern wir diese Art der Bedeutung auf Diät gesetzt haben.
Bedeutung, auf die es Wittgenstein alleine ankommt, lebt auf im Zusammenkommen aller möglichen Bestandteile, darunter Worten, einer menschlichen Lebensform, welche als einzige in der Lage ist, sie zu vermitteln.