Apus Gedanken kehrten zurück zu jenem längst vergangenen Sommertag: Er und seine Schwester hatten im Freien nach einem Kälbchen gesucht, und sie waren weiter gegangen, um die Eisenbahn zu sehen. Sie waren so gerannt, dass sie ganz außer Atem gerieten. Wie andres damals alles ausgeschaut hatte.
Die Bäume entlang der Gleise von Asharu nach Durgapur waren inzwischen gewichen, mit dem Horizont verschmolzen. Apu sah, wie der Bahndamm sich vom fernen Dorf über die Shonadanga-Ebene ihm entgegen schlängelte. Bei der Kurve nach Nishchindipur erblickte er den Rosenapfelbaum, den er so gut kannte, und darunter stand, ihrem Zuge nachschauend, seine Schwester, bleich und traurig.
Sie hatten sie nicht mitgenommen; sie fuhren weg und ließen sie zurück. Obwohl sie jetzt schon lange tot war, fühlte sich Apu ihr nahe – an jedem Ort, an dem sie zusammen gewesen waren: am Fluss, im Bambushain oder unter dem Mangobaum. Jede Ecke ihres verfallenen alten Haus in Nishchindipur atmete ihr liebes, unsichtbares Wesen. Und jetzt würde er für immer von dort wegfahren.Er wusste, dass niemand sonst Durga wirklich geliebt hatte, niemand, nicht einmal seine Mutter. Niemandem sonst tat es leid, dass sie zurückgelassen wurde.
Da durchzog sein Herz etwas Seltsames. Es war weder Kummer noch Einsamkeit. Er wusste nicht, was es war. Es bestand aus allem möglichen Gefühlen, so vielen Erinnerungen, die ihn durchströmten: Aturi die Hexe – die Treppe hinunter zum Fluss – der Pfad unter dem Chalta-Baum – Ranu – die Spiele, die er nachmittags spielte – die Spiele, die er mittags spielte – Potu – Durgas Gesicht und all die Dinge, nach denen sie sich sehnte, und die sie niemals bekommen hatte…
Und da stand sie immer noch und schaute.
Die Worte seines Herzens ergossen sich in Tränen, immer und immer wieder versuchte er, ihr etwas zu sagen: „Ich geh’ nicht wirklich weg, Didi… ich hab’ Dich nicht vergessen… es ist nicht so, dass ich dich verlassen will… sie nehmen mich fort von hier!“
Und das stimmte, er hatte sie nicht vergessen und würde sie nie vergessen. Später in seinem Leben, als er den Erdball so gut kennen lernte, seinen Gürtel aus Wasser und seine Zöpfe aus Blau, als sein Körper erbebte von der Geschwindigkeit der Bewegung – wenn von einem Schiffsdeck aus die überirdische Schönheit des blauen Himmels von einem Augenblick zum nächsten neu aufleuchtete, wenn die azurnen Hänge eines weinrebenverzierten Berges in die Ferne hinter die fahle Grenze des Meer-Horizontes verschwanden, wenn der süße Sirenengesang ferner Ufer, kaum zu erkennen durch Nebelhüllen, seine Ohren erreichte wie Götterrauschen – in solchen Momenten kehrten seine Erinnerungen zurück in eine stürmische Mosunnacht, in den dunklen Raum eines alten Hauses, zum unerbittlichen Regenrommeln, als die Tochter einer armen Dorf-Familie zu ihm aufsah von ihrem Totenbett und fragte „Apu, wenn ich wieder gesund bin, zeigst du mir dann die Eisenbahn?“
Die Signale des Bahnhofs von Majherpara wurden blasser und kleiner in der Ferne; schließlich konnte er sie nicht mehr sehen.
Bibhutibhushan Bandopadhyay PATHER PANCHALI
(übers. Martin Thau)