In seiner Logisch-philosophischen Abhandlung (Tractatus) verblüfft Wittgenstein mit folgender Behauptung: „Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem [sic!] zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts.” (Tractatus 5.5303)
Klar, zwei Steine zum Beispiel können nie ganz übereinstimmen, es wär᾽ sonst einer. Dass aber ein Ding es selbst sein soll, bleibt ein merkwürdiger Gedanke; denn durch ihn wird etwas verdoppelt: das Ding – um sein Wesen. Ein Stein wird so zum Stein kraft seiner “Steinheit”. Es entsteht auf diese Weise ein Schattenreich, in dem alles, was es gibt, erneut existiert: als seine Nämlichkeit – zu deren Erklärung man aber auf nichts zeigen kann als auf den Gegenstand, welchen sie adelt. Solcherart wird weiter nichts gesagt. Man kann mit anderen Worten gleich bei der Sache bleiben, ihr Wesen vergessen.
Dinge verdanken, was sie ausmacht, keiner Höchstselbigkeit. Dergl. hat folglich auch keine Heimat in unserem Gemüt. „Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht“, stellt Wittgenstein in 5.631 der Logisch-Philosophischen Abhandlung fest.
Was nicht besagt, es gäbe kein ICH. Nur besteht es nicht in dem, was uns durch den Kopf geht. ICH als Wesen von Gedanken oder Vorstellungen gliche der Dingheit von Dingen. Es tät’ nichts zur Sache.
Unsere Spontaneität ist keine Blüte dessen, was in uns vorgeht.
Die Bestimmung des Ichs oder Subjekts jenseits seiner Inhalte ist weniger philosophisch als religiös motiviert und will zum inneren “Nichts” führen, zum Beispiel des Buddhismus oder kenotischen Christentums, dem zufolge der Herr bei der Menschwerdung seine göttlichen Attribute vernichtete. Zum Vorbild für das Leerwerden des menschlichen Ichs, als dessen “leerer” Grund nur die göttliche Gnade gelitten werden soll. (Auch Dostojewski und vor allem Tolstoi, Wittgensteins Lieblingsautor, stehen beispielhaft für den selbstlosen Gestus der Entäußerung.)
Je länger man sich mit Wittgenstein beschäftigt, desto mehr kommt man zu der Auffassung, dass weder über die Prallheit des Ichs noch über die Inhalte des Bewusstseins zu echter Bedeutung gelangt wird, sondern nur unmittelbar handelnd im Raum der Möglichkeiten gestandenen Lebens. Unsere Identität nehmen wir nicht wahr, vielmehr handeln wir sie uns ein — infolge von etwas, das uns nicht formt, sondern durch uns erst gestaltet oder ausgedrückt werden muss. Nietzsche, der diese Vorstellung anstieß, schreckte innerlich noch zurück vor der weiteren Abwesenheit des Schlechthinnigen; sein Romantizismus hinderte ihn daran, die besinnliche Fülle des Alltags, seiner Äußerungen und Fortschritte, als hinreichende Antwort auf den „Tod Gottes“ zu würdigen.
Ähnlich ging die Nietzsche folgende französische Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg vor. Wittgenstein noch am nächsten verwandt unter den jüngeren Philosophen dürften Martin Heidegger und Gilles Deleuze sein, der dem Potenziellen ebenfalls den Vorrang gibt vor dem Feststehenden, nur dass er als Cartesianer (wie alle französischen Philosophen) nicht der Geheimmechanismen zu entraten vermag für dessen Entstehen, die überflüssig und irrelevant sind („Rhizom“ zum Beispiel heißt bei Wittgenstein „Sprache“). Deleuze hat Wittgenstein zum Totengräber der Philosophie erklärt, was insofern sogar zutrifft, als Wittgenstein alles Feststellende abtut. (Andererseits dürfte Deleuze Wittgenstein kaum gelesen haben, der jedoch seinerseits wiederum viele Philosophen nicht kannte und seinen Studenten davon abriet, deren Werke zu studieren.)
Ein anderer Denker, der Wittgenstein gleicht, ist Meister Eckhart, dessen Gelassenheit in der für Wittgenstein typischen Offenheit, inneren Freiheit und charakterlosen Denke wieder auflebt.
Wittgensteins Ziel, „der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas“ zu zeigen, ist erreicht, wenn man die Vorstellung aufgibt, ein stolzes ICH zu sein, das aus inneren Blüten schöpft. Stattdessen untersucht man lieber unverwandt oder rücksichtslos, was Familie, Stamm, Nation, Klasse, Volk, Beruf, Geschlecht oder Eigentum ausmacht, zu dem auch Wissen und der Stolz darauf zählen. Die Vorstellung des geistigen Eigentums verfliegt. „Tragen meine Bemerkungen keinen Stempel an sich“, schreibt Wittgenstein im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen, „der sie als die meinen kennzeichnet, – so will ich sie weiter auch nicht als mein Eigentum beanspruchen.“
„Ehrgeiz ist der Tod des Denkens“, heißt es in den Vermischten Bemerkungen – wobei man Ehrgeiz ersetzen möchte durch den Stolz auf Theorien, Vorstellungen, Träume, Urteile, Wissensbestandteile.
Dadurch wird folgende Frage immer vordringlicher: Wenn man absieht vom stolzen ICH, was macht statt seiner dann den freien Menschen aus?
Der Mensch ist sein Körper, zusammengefasst in seinem Gesicht und dieses wiederum zusammengefasst in seinen Augen. Haltung, Gang, Stimme und Kleidung machen ihn beseelt. Ebenso wie die Tatsache, dass er spricht. Darin besteht und gipfelt, was ihn “identifiziert”.
„Wenn der Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“, lautet das berühmte Bonmot Wittgensteins. Warum können wir ihn nicht verstehen? Weil sich sein Unterbewusstsein oder Potenzial zu stark von unserem unterscheidet, um uns in dessen Sprache, wenn es denn eine gäbe, hineinzufinden. Ein gelungenes Löwenleben unterscheidet sich von einem gelungenen Menschenleben. Gleichzeitig gibt es einige Gemeinsamkeiten, die wir durchaus nachvollziehen können: die elegante Bewegung des Körpers, die königliche Ausstrahlung – eine innere „Katzenhaftigkeit“ könnten wir uns auch noch vorstellen. Nicht vorstellen könnten wir uns hingegen, was es hieße, als sprechender Löwe auf der Welt zu sein, wie unser Geist oder unsere Seele als Löwe beschaffen wären. (Ähnlich geht es einem, wenn man in eine völlig fremde Kultur gerät. Wir können uns einen Löwen vorstellen, der deutsch spricht. Aber „löwisch“, das fiele uns schwer …)
In seinen Tagebüchern 1914–16 schreibt Wittgenstein am 15.10.1916:
„Ist es wahr, dass sich mein Charakter nach der psychophysischen Auffassung nur im Bau meines Körpers oder meines Gehirns und nicht ebenso im Bau der ganzen übrigen Welt ausdrückt?
Hier liegt ein springender Punkt.
Dieser Parallelismus besteht also eigentlich zwischen meinem Geist, i. e. dem Geist, und der Welt.
Bedenke nur, dass der Geist der Schlange, des Löwen, dein Geist ist. Denn nur von dir her kennst du überhaupt den Geist.
Es ist nur freilich die Frage, warum habe ich der Schlange gerade diesen Geist gegeben.
Und die Antwort hierauf kann nur in einem psychophysischen Parallelismus liegen: Wenn ich so aussähe wie die Schlange und das täte, was sie tut, so wäre ich so und so.
Das Gleiche beim Elefanten, bei der Fliege, bei der Wespe.
Es fragt sich aber, ob nicht eben auch hier wieder (und gewiss ist es so) mein Körper mit dem der Wespe und der Schlange auf einer Stufe steht …
Ist das die Lösung des Rätsels, warum die Menschen immer glaubten, ein Geist sei der ganzen Welt gemein?
Und dann wäre er freilich auch den unbelebten Dingen gemeinsam.“
Man sieht mit anderen Worten das Leben in seinen Gestalten; die Kreaturen sind ebenso beseelte Körper wie verkörperte Seelen.
Körper und Geist im herkömmlichen Sinn schließen einander aus und können nie zusammenfinden – eine von ihrer Erscheinung her ausdrucksstarke Gestalt jedoch sowie ein sprechendes Bewusstsein können sich in einem Körper vereinen. Und dieser ist der Mensch: sein Wesen und seine Möglichkeiten.