Wittgenstein möchte den Ausdruck „Ich weiß“ für Fälle reservieren, „in denen er im normalen Sprachverkehr gebraucht wird“ – weil, wie er in Über die Gewissheit 482 schreibt, „das ‚Ich weiß‘ keine metaphysische Betonung verträgt.“
Unter „metaphysisch“ versteht er, wie gesagt, „strenge Gewissheit“. Das Sprachspiel mit dem Wort „wissen“ aber sieht keine Superwahrheiten vor. Sie klingen entweder sinnlos („Ich weiß, dass es eine Welt gibt!“) oder lächerlich beziehungsweise komisch („Ich weiß, dass meine Hände an meinem Unterarm befestigt sind“).
Echtes Wissen ruht in selbstverständlichen Gegebenheiten und kommt in praktischen Sätzen zum Ausdruck wie „Wenn ich mein Auto vor dem Werkstattbesuch wasche, wird es geflissentlicher repariert“ oder „Es wird leichter etwas vergeben als erlaubt“. Es ist die Frucht von gemeinsamem Handeln sowie dessen Ergebnissen.
Wittgenstein benutzt zur Veranschaulichung das Sinnbild eines Flusses, dessen Bett dem Wasser in ihm Form und Richtung gibt, von diesem aber auch unentwegt verändert wird. Das Bett stellt unseren „Wissensgrund“ dar, der unser Tun (das Wasser) führt sowie von ihm verändert wird.
Ohne Fluss kein Bett, ohne Tun kein Wissen. Nach Wittgensteins Beobachtungen entsteht das Besinnliche nicht durch Nachdenken, sondern durch Handeln – im Sprachspiel, welches ein mehrere Größen einbindender Verlauf ist. Ohne Teilnahme keine Stimmung, kein Wissen.
Nur das zwischenmenschliche Handeln schöpft und erhält echte Stimmung. Es unterscheidet sich von Verhalten, indem es von seinen Gründen, nicht den Ursachen her erfasst wird. (Gründe beziehen sich auf das „Ufer“, Ursachen liegen rein „im Fluss“, sind – im Gegensatz zu den Gründen – endlos.)
Handlungen haben im Gegensatz zu Ursachen keine Geschichte, kein „Volumen“, wie Wittgenstein sich ausdrückt.
„Tun scheint selbst kein Volumen der Erfahrung zu haben. Es scheint wie ein ausdehnungsloser Punkt, die Spitze einer Nadel. Diese Spitze scheint das eigentliche Agens. Und das Geschehen in der Erscheinung nur Folge dieses Tuns. ‚Ich tue‘ scheint einen bestimmten Sinn zu haben, abgelöst von jeder Erfahrung“ (Philosophische Untersuchungen 620).
Wir agieren, wenn wir etwas tun, das den Namen Handlung verdient, spontan. Es gibt nichts, was einer Handlung vorausgeht und ihr angehört, indem es sie zum Beispiel auslöst. Insbesondere nicht unser Wille. Im Willen lebt unsere Fähigkeit, nicht aber der Anstoß, zu handeln.
Handlungen sind begründet und können infolgedessen gerechtfertigt werden, Verhalten dagegen ist verursacht. Man fragt einen Menschen nicht nach den Ursachen seines Handelns, sondern nach den Gründen. Welche er angeben können muss, um sein Tun als Handeln zu identifizieren. Ursachen werden dagegen nicht erfragt, sondern beobachtet – als Ereignisse, die einem bestimmten Tun immer wieder vorangehen.
Es wird von einem Menschen erwartet, dass er die Gründe seines Handelns angeben kann – die Ursachen seines Verhaltens muss er hingegen nicht kennen. Gründe können vorgeschoben oder angezweifelt werden, Ursachen nicht.
In Gründen äußert sich das in einer Handlung anwesende „Ufer“: das nicht hinterfragte „Wissen“ einer Gemeinschaft. Gründe sind insofern nichts Persönliches, keine Ausgeburten desjenigen, der sie hat, sondern etwas Allgemeingültiges, von ihm unabhängig Geltendes, das er für sein Handeln in Anspruch nimmt. Handeln unterliegt immer der öffentlichen Kritik, muss gerechtfertigt werden können.
Handeln ist – insofern – konventionell: indem es Konventionen entweder genügt oder diese sogar stiftet (Formung des Ufers durch den Fluss).
Die Urhandlung, Quelle jeglicher Stimmung, aber ist das Sprachspiel, das, „was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt […] gleichsam […] etwas Animalisches“.
Bedeutung lebt in den Mustern einer „animalischen“ Regelmäßigkeit, die Vertrautheit erzeugt, ohne deswegen zu erstarren. Der Fluss bewegt sein Bett.
Die Einheit von Fluss, Bett und der Bewegung der beiden bildet unser Bewusstsein, welches infolgedessen eine Funktion seiner Umgebung, von „Welt, Klima und Schwerkraft“ ist. Auf die Bemerkung eines seiner Studenten, er wolle nicht wieder in der Steinzeit leben, erwiderte Wittgenstein, ein Steinzeitmensch würde wohl nicht anders empfinden, nur umgekehrt, wenn er in unserer Mitte landen sollte.
In seiner Notizensammlung Über die Gewissheit beschäftigt sich Wittgenstein mit der Frage des Wissens. Ergibt es Sinn, zu sagen, man „wisse“ Sachen, die zum „Ufer“ gehören, die unserer Lebenswelt und dem Denken in ihr die Form verleihen?
Jemand sagt zum Beispiel, er „wisse“, dass die Erde sich um ihre Achse drehe oder rund und keine Scheibe sei, oder er sei sich ganz sicher, zwei Augen im Kopf zu haben. Klingt irgendwie komisch.
„Wenn ich sage ‚Wir nehmen an, dass die Erde schon viele Jahre existiert habe‘ (oder dergl.), so klingt es freilich sonderbar, dass wir so etwas annehmen sollten. Aber im ganzen System unsrer Sprachspiele gehört es zum Fundament. Die Annahme, kann man sagen, bildet die Grundlage des Handelns und so natürlich auch des Denkens“ (Über die Gewissheit 411).
Wir können nicht das, was unser Denken instand setzt, zu dessen Gegenstand machen.
„Das, worauf ich abziele, liegt auch in dem Unterschied zwischen der beiläufigen Feststellung ‚Ich weiß, dass das …‘, wie sie im gewöhnlichen Leben gebraucht wird, und dieser Äußerung, wenn der Philosoph sie macht“ (Über die Gewissheit 406).
Der „Philosoph“, befürchtet Wittgenstein, gebraucht „Ich weiß“ anders als der normale Mensch – und bringt infolgedessen unseren Verstand durcheinander, indem er etwa Sätze sagt wie „Ich weiß, dass die Welt seit mindestens 2.000 Jahren existiert“ oder „Ich weiß, dass die Vergangenheit nicht nur Erinnerung, sondern wirklich ist“ usw.
„Ist es aber eine genügende Antwort auf die Skepsis der Idealisten oder die Versicherungen der Realisten: ‚Es gibt physikalische Gegenstände‘, dass es Unsinn ist? Für sie ist es doch nicht Unsinn. Eine Antwort wäre aber: diese Behauptung, oder ihr Gegenteil, sei ein fehlgegangener Versuch, (etwas) auszudrücken, was so nicht auszudrücken ist. Und dass er fehlgeht, lässt sich zeigen; damit ist aber ihre Sache noch nicht erledigt. Man muss eben zur Einsicht kommen, dass das, was sich uns als erster Ausdruck einer Schwierigkeit oder ihrer Beantwortung anbietet, noch ein ganz falscher Ausdruck sein mag. So wie der, welcher ein Bild mit Recht tadelt, zuerst oft da den Tadel anbringen wird, wo er nicht hingehört, und es eine Untersuchung braucht, um den richtigen Angriffspunkt des Tadels zu finden“ (Über die Gewissheit 37).
Ein Wissensanspruch versucht immer, dem Zweifel, es könne sich auch andersherum verhalten, zu begegnen (die Welt könne also „nicht existieren“, wenn ich zu wissen vorgebe, dass sie es tue). Aber macht ein Zweifel immer Sinn?
Von dem, was für uns feststeht, können wir nicht sagen, wir wüssten es. Denn das Feststehende „gehört zur Methode unseres Zweifelns und Untersuchens“. Ein Zweifel muss immer einen Inhalt haben, dessen Bestehen er infrage stellt. Die Möglichkeit dieses Inhalts kann er nicht auch noch anzweifeln, ohne leer, also sinnlos zu sein.
Von „Wissen“ kann man nur reden, wo auch „Irren“ möglich ist – und umgekehrt. Wenn ich Sydney für die Hauptstadt Australiens halte, ist dies ein Irrtum im Schatten des Wissens, dass es tatsächlich Canberra ist. Wenn ich hingegen glaube, dass die Welt nicht existiert, ist dies kein Irrtum im Schatten des Wissens, dass es sie gibt, sondern ein Merkmal meines Wahnsinns.
Das, worin wir uns nicht irren können, ohne dass unsere Welt sich auflöst, kann auch nicht gewusst werden – vielmehr sind wir uns seiner sicher.
Einen Wissensanspruch geltend zu machen gegenüber dem, was feststeht, verleiht diesem keine größere Gewissheit, sondern den falschen Schein derselben. Freilich kann, was normal erscheint, verschwinden – infolge von zum Beispiel Wahnsinn, Drogen, Täuschung, Geistesstörung, unerhörten Ereignissen, Verwirrung, Blindheit oder „geistiger Wiedergeburt“. Das stellt aber nicht die Hinlänglichkeit seines Gegebenseins infrage, welches wir weder „wissen“ noch „bezweifeln“ können, weil es diese Operationen überhaupt erst ermöglicht.
So gibt es kein „Superwissen“ über die Welt, nur einen vertrauten, fließenden Verkehr der Menschen untereinander sowie mit den Dingen ihrer Umgebung.
Im Kielwasser Wittgensteins stellt sich jede Form überweltlicher Gewissheit – ob sie sich in Ideologien zeigt, im wissenschaftlichen Vormarsch oder in der Mathematik (zu deren Fanatismus Wittgenstein das unerschrockenste Verhältnis hat) – als Trug heraus. Sein Feingespür, dass wir in puncto Gewissheit nie über diejenige unserer normalen Sprachspiele hinauskommen, unterhöhlt die Superrealitäten der Wissenschaft ebenso wie diejenigen des ihr nacheifernden ideologischen Gegenübers.
Die gottähnliche Sicherheit des kartesianischen Subjekts ist übergegangen in die Wissenschaften, welche inzwischen bestrebt sind, unseren Alltag unbewusst immer mehr ihren Algorithmen anzugleichen.
Die organische oder normale Gewissheit im Sinn Wittgensteins ist eine Handlungskategorie, die Bedeutung schöpft im unbedachten Tun und Denken unseres Alltags, welcher sie rechtfertigt, ohne selber gerechtfertigt werden zu können. Man kann sich höchstens einen anderen einhandeln. Er liefert das menschliche Maß an Normalität, das weiterlebt, auch wenn alles ringsum zusammenbricht oder erstarrt, und dann hinarbeitet auf dessen Wiederauferstehung.