ENTSCHÄRFUNG DER METAPHYSIK

Wittgensteins stiftet kein eigenes System der Vergegenwärtigung, sondern hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Vergegenwärtigen zu verwinden: die darin liegende Vorstellung einer allem zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeit, deren Nachvollzug den Menschen zum erfolgreichen Verarbeiten von Gegenständen und der Welt bemächtigt. Der Metaphysiker formuliert solche Gesetze im Allgemeinen, bevor sie vom Forscher anschließend „durchgezogen“ und zweckmäßig gemacht werden. Die Philosophie bzw. Metaphysik ist so gesehen die Wiege der westlichen Wissenschaften und macht deren Wesen aus.

Die Methode der Verdinglichung führt Wittgenstein – womöglich spöttisch – in seinem Frühwerk vor. Der Zersetzung des darin liegenden Alleinvertretungsanspruchs ist dann sein weiteres „Anti-Philosophieren“ gewidmet. Der Metaphysik werden die Zähne gezogen, indem die Strenge ihres Begriffsapparats als tyrannische Überspitzung herausgestellt wird, die eher einem Ausbeutungswillen als dem Innesein ihrer natürlichen Quellen zu verdanken ist.

Diese macht Wittgenstein ausfindig in den Läufen eines „organischen Werdens“, das sich entsprechend seiner Umgebung in der Welt ausbildet und sich in den Gepflogenheiten der Menschen manifestiert, die wiederum in der Wüste andere sind als zum Beispiel im Gebirge oder im Dschungel, in der Stadt andere als auf dem Land, im Warmen andere als im Kalten.

Im Gegensatz zu den Vergegenwärtigungen der Metaphysik und ihres Abkömmlings, der Technik, sind die unmittelbaren Sinngehalte der Lichtung biegsamer, wie Wittgenstein nachweist, indem er als ihr Merkmal die „Familienähnlichkeit“ anführt. Wenn etwas ursprünglich Sinn macht, dann nicht, wie Sokrates „vor Augen führte“, aufgrund einer in allen seinen Instanzen eisern wiederkehrenden Eigenschaft, sondern weil durch sein Zutagetreten ein Thema erklingt, gleich dem Gegenstand eines Mosaiks, der sich erst im Zusammenkommen seiner Bestandteile zeigt, ohne in einem von ihnen alleine enthalten oder wiederkehrend zu sein. Wittgenstein veranschaulicht dies anhand des Spinnens eines Fadens, bei dem „Faser an Faser“ gedreht wird. „Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgend eine [sic!] Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern einander übergreifen.“

„Das Denken“, kritisiert Wittgenstein dagegen den stellenden, planenden Gestus, „ist mit einem Nimbus umgeben. – Sein Wesen, die Logik, stellt eine Ordnung dar, und zwar die Ordnung a priori der Welt, d. i. die Ordnung der Möglichkeiten, die Welt und Denken gemeinsam sein muss. Diese Ordnung aber, scheint es, muss höchst einfach sein. Sie ist vor aller Erfahrung; muss sich durch die ganze Erfahrung hindurchziehen; ihr selbst darf keine erfahrungsmäßige Trübe oder Unsicherheit anhaften. – Sie muss vielmehr vom reinsten Kristall sein. Dieser Kristall aber erscheint nicht als eine Abstraktion; sondern als etwas Konkretes, ja als das Konkreteste, gleichsam Härteste.“

Wittgenstein hält diese Überzeugung oder Forderung für irrig, fatal, findet aber gleichzeitig, dass man ihr einmal seine Seele verschrieben haben muss, um danach den „Weg der Erlösung“ zu beschreiten. Deswegen setzt jedes sinnvolle Wittgenstein-Studium ein mit dem Nachvollzug des Tractatus. (Wittgenstein hatte verfügt, dass dieser zusammen mit dem ihn dekonstruierenden Spätwerk veröffentlicht werden sollte.)

Die metaphysische Einstellung ist besessen davon, das Wirkliche zu stellen mit ihrem Begriffsapparat. Selbst Schmerzen, Vorstellungen oder Träume werden verdinglicht, statt sie als etwas zu erleben, was in einem aufkommt, sich äußert und nicht vergegenwärtigt werden kann.

Eines der befreiendsten Erlebnisse besteht dank Wittgensteins Spätphilosophie in dem Aha-Erlebnis, dass es zwar ein Innesein, aber keine innere Bühne gibt, die dessen exklusiver Schauplatz wäre – es sich vielmehr in der Außenwelt zuträgt, die fälschlich so heißt, weil es ohne innere auch keine äußere Bühne gibt. Wittgenstein wird oft unterstellt, er sei ein Behaviorist, der „Inneres“ leugne: Gefühle, Träume usw. Dabei werden sie von ihm eher befreit – aus dem fiktiven Verlies einer hermetischen Innenwelt in jenen Beziehungsreichtum entlassen, der das Sein der Menschen untereinander in feinster Weise mustert und dadurch bedeutsam macht. Hat man dies erst einmal begriffen, kann man nie wieder zurückfallen in die vertricksten, Geister haschenden Mythen herkömmlicher (metaphysischer) Psychologie.