„Tragisch“ kennzeichnet keine menschliche Erfahrung, sondern eine Literaturform, die Aischylos und seine unmittelbaren Vorgänger im antiken Athen geschaffen haben; ihre Theaterstücke hießen Tragödien ‒ nicht wegen ihres besonders „tragischen“ Inhalts, sondern weil ihre Aufführung im Zusammenhang mit „Böcken“ (griech. tragos) stand. „Tragisch“ ist ein Vorgang daher dann, wenn er nach Art der Tragödie dargestellt wird.
Eine griechische Tragödie behandelt menschliches Versagen – im Gegensatz zur Komödie – mit Erbarmen. Derselbe Inhalt kann gefühlvoll-tragisch oder gnadenlos-komisch präsentiert werden. Aus komischer Sicht verdankt sich menschliches Scheitern der Dummheit, für die Tragödie liegt es im unmenschlichen Plan der Schöpfung. Die Tragödie erspürt und würdigt das im Scheitern übrig bleibende Menschsein. Leiden, das ein Zuschauer privat verdrängt, da es ihm den Lebensmut rauben würde, lebt in der Tragödie als universale Größe und fördert so beim Zuschauen das Erleben, nicht grausam herausgegriffen zu sein, sondern einer Bruderschaft anzugehören, die einige der größten Helden der Menschheit einschließt. Die Tragödie ist nicht – wie der Komödie – klug, vermehrt nicht unser Wissen, sondern vermittelt dem Zuschauer das Gefühl, in seinem Leiden nicht alleine zu stehen.
Das zentrale Element der Tragödie bildet die Katastrophe (auch wenn diese nicht selten verhindert wird). Die tragische Katastrophe ist nicht, wie im Epos, Episode, sondern Hauptsache. Sie ist auch nicht Teil der Erziehung des Helden, sondern ein dunkler Hintergrund dessen, was ihn zuinnerst ausmacht: seines Menschseins. (Ihr Erbe ist daher auch nicht der Roman, sondern – im Kreisen um ein einziges ungewöhnliches Ereignis – die Novelle.)
Der tragische Held ist unverzagt, sein Mut und seine Ausdauer im Leiden heischen Bewunderung, nicht Gelächter. Man ist, nachdem man eine Tragödie gesehen hat, stolz darauf, ein Mensch zu sein.
Fast alle klassischen Tragödien entspringen gewöhnlichen Beziehungen: zwischen Liebenden oder Eltern und Kindern (außergewöhnliche Beziehungen bieten dem Zuschauer weniger Erfahrung aus erster Hand). Oft ist „Blindheit“ ein zentrales Motiv: die Unfähigkeit, diejenigen, die einem am nächsten stehen, als das zu erkennen, was sie wirklich sind. Häufige Themen sind auch der „Fluch der Tugend“ und „falsche Gerechtigkeit“. Das größte Übel breitet sich in griechischen Tragödien weniger durch die Anmaßung des Widersachers aus als durch seine Unerbittlichkeit.
Während die Komödie (blasiert) behauptet, dass Übel und Unergiebigkeit in der Welt auf Wissensmangel und menschliche Entartung zurückgehen, stellt die Tragödie (jammernd) den Menschen in einer Welt vor, an der er scheitern muss.
Während der griechische Tragödienheld keine Entwicklung durchmacht, durch starr-mutiges Festhalten an seinem Weg Bewunderung erzwingt, bekämpfen sich in der Seele des modernen Helden gleichwertige Neigungen. Sein Untergang verursacht dann die Einseitigkeit: die Entscheidung für das eine um des anderen willen. Der Shakespeare‘sche Held schlägt, nicht mehr, weil er muss, sondern aus freien Stücken, eine Richtung ein, die er dann ‒ wohl oder übel ‒ durchhält. Shakespeares Tragödien zeigen, wie eine Leidenschaft geweckt wird und sich entfaltet, den Fortgang einer großen Seele, die sich selbst zerstört im Kampf mit Umständen, Verhältnissen und ihren Folgen. Shakespeares Figuren bestricken durch Lebendigkeit, Fantasie, Witz, Innigkeit und Empfindungsgabe. Aus freien Stücken handelnd, betrachten und deuten sie sich selbst fast wie ein Künstler sein Werk. Ihr Scheitern wird schließlich nicht alleine von unglücklichen Umständen oder äußeren Zufälligkeiten verursacht; diese kommen vielmehr immer auch mit durch das zustande, wogegen und wofür der Held sich einmal entschieden hatte. Seine Absichten mögen dabei besser gewesen sein als seine Werke; nur für Letztere kann er schließlich aber die Verantwortung übernehmen. Wodurch er dann, etwa im Falle Macbeths, nicht etwa „Rache an sich selbst“ nimmt, sondern einsteht für das, was er sich eingehandelt hat. („Dass man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht!“ kommentiert Nietzsche in Götzendämmerung I,10, „dass man sie nicht hintendrein im Stich lässt! – Der Gewissensbiss ist unanständig.“)
Der tragische Held akzeptiert die Welt so, wie sie mit ihm geworden ist, einschließlich des Leids, das sie verursacht.
Dante nannte sein christliches Versepos „Göttliche Komödie“, da es den Weg zum rechten Tun und Sein zeigt, dessen Folgen zwangsläufig angenehm und lohnend sind. Platonisch-christlich inspirierte Ethik ist mit der Tragödie unvereinbar, weil Tugend im Diesseits, auch wenn sie scheitert, im Jenseits immer belohnt wird. Das Leiden im Diesseits dauert nicht ewig und bedeutet daher nichts. Die Qualen in der Hölle sind nicht tragisch, da sie verdient sind. Das Christentum kennt insofern keine Würdigung des Menschen im Scheitern; es fehlt die Möglichkeit, ihn größer zu erleben als die Mehrzahl jener, die nicht scheitern. Es ist eine Sünde, die Verdammten zu bewundern. Selbst Christi Leiden sind nicht tragisch, da sie etwas Sinnvolles bewirken. Hier liegen die Ursprünge des Melodrams: Leiden als Vorform der Erlösung.