Was Charaktere {Gesinnungen} betrifft, muss man auf vier Merkmale bedacht sein. Das erste und wichtigste besteht darin, dass sie [zwischen den Extremen des Tadellosen und des Schuftes] tüchtig sein sollen. Eine Person hat einen Charakter {Maßstab}, wenn, wie schon gesagt wurde, ihre Worte und Handlungen bestimmte Neigungen erkennen lassen; ihr Charakter {Stil} ist tüchtig, wenn ihre Neigungen tüchtig sind …
Das zweite Merkmal ist Angemessenheit {die Zeichnung in typgerechten Linien} …
Das dritte Merkmal ist das Ähnliche {menschlich nicht allzu weit vom Niveau des Zuschauers entfernt Liegende}. Denn dies ist etwas anderes, als den Charakter {die Macht seiner Gewohnheiten} so zu zeichnen, dass er – in dem soeben beschriebenen Sinne – tüchtig und angemessen ist.
Das vierte Merkmal ist das Gleichmäßige. Und wenn jemand, der nachgeahmt werden soll, ungleichmäßig {widersprüchlich} ist und ein solcher Charakter {eigenartig} gegeben {eingeführt} ist, dann muss er immerhin auf gleichmäßige Weise ungleichmäßig sein. S. 47
Charaktere sollen tüchtig sein, realistisch gezeichnet, dem Zielpublikum ähneln und sich treu bleiben in unterschiedlichsten Verhältnissen.
Da Tragödie {dramatische Verknüpfung von Ereignissen} Nachahmung {Vorstellung} von Menschen ist, die besser sind als wir, muss man ebenso verfahren wie ein guter Porträtmaler. Denn auch diese geben die individuellen Züge wieder und bilden sie ähnlich und zugleich schöner ab. So soll auch der Dichter, wenn er jähzornige, leichtsinnige und andere mit derartigen Charakterfehlern {schlechten Angewohnheiten} behaftete Menschen nachahmt {hervorbringt}, sie als die, die sie sind, und zugleich als rechtschaffen {etwas über das sittliche Niveau des Zuschauers herausragend} darstellen. S. 49
Alle dramatischen Figuren sollen ‒ ein bisschen ‒ imposanter sein als ihre Betrachter.